„Angelica“ von Mitchell Lichtenstein



Angelica“ spielt in London um 1880, in einer Zeit, in der Sexualität an sich weitgehend ein Tabu war – und weibliche Sexualität noch mehr. Vielfach gingen Frauen aus der Oberschicht ohne jegliche Erfahrung in die Ehe und hatten kaum die Möglichkeit, in diesem Feld eine selbstbewusste Herangehensweise zu entwickeln. Diese Naivität ist Thema des Films. Constanze ist völlig überfordert, als ihr Ehemann ihr alternative Formen der sexuellen Befriedigung vorschlägt, sie glaubt, er verfüge über eine übersteigerte Libido, die vermutlich an seiner italienischen Abstammung liege. Doch Joe, Constanzes Ehemann, ist Gentleman durch und durch, verständnisvoll, duldsam und treu, auch über die lange Zeit hinweg. Der Zuschauer ertappt sich dabei, wie er immer wieder erwartet, dass Joe irgendein dunkles Geheimnis oder zumindest ein zu verachtendes Fehlverhalten offenbart, aber das geschieht nicht. Das Böse sitzt nicht in ihm, wie Constanze es sich einredet.

Ein weiteres wichtiges Thema des Films ist die Beziehung zwischen Constanze und Angelica. Das Kind besitzt eine emotionale Intelligenz, die es ihr ermöglicht, weitgehend Verständnis für die überbesorgte Mutter zu empfinden und sie im entscheidenden Fall zu verteidigen. Constanze nimmt Angelica als Erweiterung ihrer selbst an, die es krampfhaft zu beschützen gilt. Ihre angestaute sexuelle Frustration versucht sie in die Liebe zur Tochter zu kanalisieren. Als der böse Geist in Constanzes Vorstellung Angelica angreifen will, gibt sie sich, um die Tochter zu schützen, ihm mutig und entschlossen hin, im Bewusstsein, dabei ihr Leben zu riskieren.

Weibliche Sexualität spielte sich im viktorianischen Großbritannien hinter verschlossenen Vorhängen ab. Foto: Berlinale

Weibliche Sexualität spielte sich im viktorianischen Großbritannien hinter verschlossenen Vorhängen ab. Foto: Berlinale

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Arthur Phillips, der 2007 erschienen ist. Im Gegensatz zur literarischen Vorlage ist der Handlungsstrang linear gehalten und die Geschichte alleinig aus der Perspektive von Constanze erzählt, während das Buch eine kompliziertere Erzählstruktur aufweist und damit eine stärkere Verwirrung zwischen Realität und Fantasie provoziert. Die beschriebene viktorianische Zeit ist anhand der Kostüme, Musik und der Interieurs sorgfältig rekonstruiert worden (in einem Studio in New York). Obwohl der Film beabsichtigt, dem viktorianischen Dekor eine halb düstere, halb skurrile, an den gotischen Roman erinnernde Atmosphäre zu unterlegen, ist der Gruselfaktor zu schwach, er beschränkt sich auf wenige Szenen. Viel interessanter sind die Stellen, die eindeutig komisches Potenzial haben. Durch die Naivität Constanzes im Umgang mit dem Thema Sexualität entstehen Situationen wie die, als sie ihren Mann beim Masturbieren überrascht, die aus heutiger Sicht zum Lächeln anregen. Auch Gestik und Mimik der Magierin, die offensichtlich ein Scharlatan ist, sind sehr amüsant.

Zu jeder Zeit ist ersichtlich, dass in „Angelica“ die weibliche Sexualität aus männlicher Perspektive beschrieben wird. Dass Constanze psychisch krank wird, weil ihre Triebe unerfüllt bleiben, entspricht der Vorstellung, die sich ausschließlich männliche Ärzte des späteren 19. Jahrhunderts von der weiblichen Psyche gemacht haben. Hysterie galt als typisch weibliche Krankheit und soll ihren Ursprung im Sexuellen gehabt haben. „Angelica“ greift dieses Motiv, das in unserer Zeit diskutabel wirkt, auf und regt zum Nachdenken über die aktuelle Wahrnehmung weiblicher Sexualität an. Der Film findet in Peter Kerns „Der letzte Sommer der Reichen„, ebenfalls auf der Berlinale gezeigt, sein Gegenstück. Auch hier lässt die männliche Sicht Unverständnis und mangelnde Sensibilität durchscheinen.

Weiterlesen: Unsere Kritik „Sex, Drogen und Geld zu „Der letzte Sommer der Reichen“ von Peter Kern

Angelica“ ist kein eindeutiger Horror- oder Geisterfilm, aber auch kein historisches Melodrama. Die Mischung aus Phantastik, Komik und genauer Zeitstudie macht den Film interessant und ungewöhnlich.

Teresa Vena

Angelica„, Regie: Mitchell Lichtenstein, Darsteller: Jena Malone, Janet McTeer, Ed Stoppard, Tovah Feldschuh

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