65. DOK Leipzig: ONE ROAD TO QUARTZSITE von Ryan Maxey


Still aus © DOK Leipzig 2022 / ONE ROAD TO QUARTZSITE, Ryan Maxey

Die surrende Fliege in Quartzsite  

Die Kamera ist keine Fliege an der Wand, sondern eine Fliege in der Luft auf einem riesigen Campingplatz unter freiem Himmel. Ryan Maxeys Dokumentarfilm ONE ROAD TO QUARTZSITE, der im Wettbewerb um den Publikumspreis auf dem 65. Internationalem DOK Leipzig läuft, stellt die Lebensentwürfe einer bunten Schar konservativer US-Amerikaner*innen dar. Sie alle hausen in der Arbeiterstadt Quartzsite. Eine Stadt, die im US-amerikanischen Bundestaat Arizona mitten in der Wüste an einer Autobahnausfahrt nahe der mexikanischen Grenze liegt.

Jedes Jahr überwintern bis zu eine Million US-Einwohner*innen aus den nördlichen Bundesstaaten in Quartzsite. Für 180 Dollar kann sich jede*r unkompliziert ein Plätzchen mieten.

In seinem ersten langen Dokumentarfilm widmet sich Maxey Themen wie Einsamkeit und Sucht. Vor allem aber stellt er moralische Fragen. Als Regisseur und Reisender verbrachte er die letzten zehn Jahre die meiste Zeit in einem blauen Schulbus aus den 90er Jahren. Irgendwann landete er dann in Quartzsite.

ONE ROAD TO QUARTZSITE verzichtet auf Interviews und Kommentare. Mit beobachtender Kamera erkundet der Film die Möglichkeiten zwischen ideologischen Unterschieden und gemeinsamer Menschlichkeit. Politisch gesehen war Maxey mit vielen Leuten in Quartzsite uneins. „Ich stehe weit links, und die Leute in Quartzsite sind eher weit rechts. Die meiste Zeit war ich frustriert von diesem Ort, der so viele toxische amerikanische Werte verkörperte“, schreibt er in seinem Regie-Kommentar.  

Um herauszubekommen, wie man sich mit einem Ort und seinen Menschen verbunden fühlt, während man gleichzeitig mit der Politik und den Werten nicht einverstanden ist, die viele der „Quartzsitianer*innen“ repräsentieren, drehte Maxey die Dokumentation.

Unvoreingenommen und neugierig geht Maxey auf die Gemeinschaft zu. Protagonist*innen dabei sind unter anderem Care Bear, eine ehemalige Methsüchtige, die in der Immobilienkrise alles verloren hat. Jetzt ist sie eine sanftmütige Wüstenmama, die Reisende auf ihren Campingplatz aufnimmt, solange sie das Meth und Heroin zurücklassen. Teri ist eine rosagekleidete Transfrau, die in monotoner Stimme mit sich selbst und ihren ständigen Begleitern, ihren Kuscheltieren, spricht. Vor einem Jahr ist sie in Quartzsite zusammengebrochen und träumt davon, nach San Francisco zurückzukehren. Teri scheint der einzige Gegenpol zur konservativen amerikanischen Mittel- und Arbeiterschicht in Quartzsite zu sein.

Paul Range ist die widersprüchlichste Persönlichkeit der Stadt. Er ist ein Verfechter der Verfassung und der Waffenrechte. In Quartzsite verbringt er seine ganze Zeit damit, in seinem 1948er Militärjeep durch die Wüste zu fahren und Zugreisenden und wohnungslose Punks mit Lebensmitteln, Kleidung und Drogerieartikeln zu versorgen. Maxey zeigt auch eine US-nationalistische Camperin, die ihre Krankenversicherung verloren hat und nach Mexiko für eine Zahnbehandlung geht. Zu ihrer Begleiterin sagt sie beim reibungslosen Betreten durch den Grenzzaun stolz, dass nach Mexiko wirklich jeder reinkommt, „wir aber in den USA nicht jeden reinlassen“.

Gekonnt addiert Maxey zu seiner Perspektive zwei weitere. Durch die Linse einer wackelnden Videokamera von drei Jugendlichen, die sich in Mutproben austesten und zusammen Philosophieren, taucht das Publikum in ihre Perspektive ein. Ein lokales Tourismus-Video aus dem Archiv zeigt die Werte und Einstellungen, die die Gesellschaft hier ausmachen. Fast Food wird etwa stolz als gesundes Essen betrachtet.

Maxeys narrative Position, die mal integraler Bestandteil der Community in Quartzsite ist und mal eher in Distanz geht, erhält durch die verschiedenen Erzählschichten mehr Authentizität und Aussagekraft. Denn er überhöht sich als Dokumentarfilm-Regisseur nicht, der viel moralische Verantwortung im Schnitt hat.

Sensibel schafft es Maxey, in keiner seiner Szenen selbst zu werten. Die Wertung findet allein durch den Schnitt des Materials aneinander statt und kreiert so Bedeutung.

In klaren, sonnendurchfluteten Bildern erforscht der Dokumentarfilm Menschen und wie sie zu dem geworden sind, was sie sind. Ohne darauf immer Antworten zu liefern.

Termine bei der 65. DOK Leipzig:
Samstag, 22.10. 22:00 Uhr, Regina Palast 5
Sonntag, 23.10. 17:30 Uhr, Schaubühne Lindenfels