67. DOK Leipzig: IM PRINZIP FAMILIE von Daniel Abma


© DOK Leipzig 2024 / IM PRINZIP FAMILIE, Bandenfilm, Johannes Praus
© DOK Leipzig 2024 / IM PRINZIP FAMILIE, Bandenfilm, Johannes Praus

Familie auf Zeit

Fast wie eine Familie, aber nur für einen Moment. In einer Wohngruppe auf dem Land erschaffen die Erzieher*innen Antje, Max und Sören einen Ort für Kinder, der für eine gewisse Zeit ein Zuhause nachahmen soll. Zwar sind sie nicht ihre Eltern und wollen und dürfen dies auch nicht sein, aber sie wissen, wie wichtig Struktur, Verlässlichkeit und Vorbilder für die sieben- bis vierzehnjährigen Kinder der Wohngruppe sind.

Daniel Abmas berührender Dokumentarfilm IM PRINZIP FAMILIE, der auf dem 67. DOK Leipzig im deutschen Wettbewerb läuft, begleitet über mehrere Jahre drei Erzieher*innen in ihrer Arbeit in der Wohngruppe: Wäsche waschen, Einkäufe schleppen, Kinder anschnallen und im Kleintransporter zur Schule kutschieren gehört ebenso zu ihrem Alltag wie Konflikte zu schlichten, eine Knuddelattacke zu empfangen oder die Kinder durch Fragen zu eigenen Erkenntnissen oder selbst getroffenen Entscheidungen zu bringen.

Der rote Faden des Films ist die hohe Belastung der Erzieher*innen. Andauernd passieren Sachen parallel. Selbst ein Interview mit dem Erzieher Sören wird gestört, weil Luckas technische Probleme mit seiner Spielkonsole hat oder im Hintergrund nur auf der Tonebene hörbar „eener ausflippt“ und gegen die Fensterscheibe schlägt, so Sören.

In einer zentralen Szene während einer Übergabe zu den Abläufen am Morgen rattert Sören im Gespräch mit seinem Kollegen Max im Akkord die unendlichen To-dos runter: Kinder wecken, Toast vorbereiten, Brotboxen, Wasserflaschen und Ranzen mitgeben, Mittagessen bestellen, Medikamente verabreichen. „Wenn du dann um 7:00 zur Schule losfahren willst, ist es top, wenn du es um 07:05 schaffst.“ Genauso geht es in der Wohngruppe zu. Ungeplantes wird schon mit eingeplant.

Verschiedene Studien zeigen, dass der Erzieherberuf überdurchschnittlich stark von Stress und psychischen Belastungen betroffen ist. Einer Studie der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) von 2015 zufolge fühlen sich etwa rund 30 Prozent der Fachkräfte in Berliner Ganztagsgrundschulen täglich „emotional ausgelaugt“ oder sind durch ihre tägliche Arbeit „ausgebrannt.“ Auch in anderen Bundesländern ist das Burnout-Risiko laut Studien allgemein im Erzieherberuf ähnlich hoch oder sogar noch höher. Zudem fehlt überall das Personal. Immer wieder erstaunt deshalb der unermüdliche Einsatz der porträtierten Erzieher*innen  – die Kinder siezen sie stets – die trotz der enormen Verantwortung und Rückschläge in ihrer Arbeit Ruhe bewahren und nicht aufgeben. Wenn etwa die Telefonnummer der Mutter eines Jungen plötzlich nicht mehr aktiv ist oder ein geplanter Tagesbesuch einer Mutter nicht stattfindet, den ein Kind sehnlichst herbeisehnte.

Alle fünf Jungs, die in der Wohngruppe leben, eint der Wunsch eines Tages wieder nach Hause zu dürfen. Dafür kämpfen Antje, Max und Sören hartnäckig in Unterstützung mit dem deutschen Jugendhilfesystem. Sie telefonieren mit dem Jugendamt, organisieren sogenannte Hilfeplangespräche und setzen gemeinsam Ziele mit den Eltern. Doch im Moment können die Mütter und Väter ihre Söhne nicht aufnehmen.

Abmas Dokumentation fußt auf einer zurückgenommenen Haltung, die nie vermessend wertet. Mit dem Finger könnte er etwa auf eine – in einem Meeting erwähnte ­– Mutter zeigen, die es morgens nicht schafft, für die neue Arbeit aufzustehen und so von der Nachbarin geweckt wird. Doch Abma geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, das Spannungsfeld einzufangen, in dem die Erzieher*innen sich zwischen dem, was sie den Kindern geben möchten, und dem, was die Realität ihnen gibt, bewegen.  IM PRINZIP FAMILIE ist genauso: Hoffnungsvoll und optimistisch trotz der Schwere des Themas. In kräftigen Farben getragen von Henning Fuchs‘ melodischer Pop-Musik kreiert der Kameramann Johannes Praus intime Bilder, die oft an fiktive Formen erinnern und dabei direkt ins Herz gehen.

Eine zusätzliche Ebene erhält IM PRINZIP FAMILIE durch die gefilmten Dienstberichte, die Antje, Max und Sören nach der Arbeit schreiben müssen. In nüchterner Sprache tippen sie dann spät abends ihre emotionalen Erlebnisse in den Computer. Die Szenen zeigen sowohl die Kluft zur realitätsfernen Bürokratie, aber auch, wie eine herausfordernde Situation für die Außenwelt fast verschwindet. Ein chaotischer und langatmiger Konflikt um Pokémon-Karten wird dann etwa auf zwei Wörter heruntergebrochen: „Streit eskaliert“.

IM PRINZIP FAMILIE rückt die für unsere Gesellschaft oft im Hintergrund stehende, aber systemrelevante Arbeit von Erzieher*innen in den Vordergrund. Ohne in Klischees zu fallen, zeigt die Doku einfühlsam den wuseligen und herausfordernden Alltag in einer Wohngruppe aus der Perspektive des Erzieherberufs. Zugleich verdeutlicht der Film, dass es sich trotz Herausforderungen und Widrigkeiten im Leben lohnt, dranzubleiben und weiterzumachen. Selbst in sehr komplexen Lebenslagen.

IM PRINZIP FAMILIE, Regie: Daniel Abma. Deutschland. 2024. 91 Minuten. …

Termin auf dem DOK Leipzig
03. November 2024, CineStar 4, 17:00
13. November 2024, Passage Kino Leipzig, 10:00-12:00 (Schulvorstellung)

Kinostart: 05. Juni 2025