70. Berlinale: „Surge“ von Aneil Karia
Mit dem Kopf durch die Wand
In seinem manischen Langfilmdebüt „Surge“ führt uns der britische Regisseur Aneil Karia auf einem absurd-grotesk-komischen Balanceakt durch ganz alltägliche Lokalitäten der britischen Hauptstadt. Joseph (Ben Whishaw) arbeitet an der Sicherheitskontrolle des Londoner Stansted-Flughafens, einem gigantischen, funktionellen Nicht-Ort, in dem er einer klar einstudierten Routine-Tätigkeit nachgeht. Mit eingeübten Handgriffen tastet er Passagiere ab und überprüft diese mit einem Handscanner. Im Zweifelsfall bittet er sie in einen abgeschiedenen Bereich zur genaueren Durchsuchung. Eigentlich eine ganz normale Berufstätigkeit, auch wenn er dadurch in einigen Fällen die persönlichen Distanzzonen der Personen durchbrechen muss und eine unbequeme Nähe zu ihnen aufbaut.
Vor allem diese Momente scheinen Joseph unangenehm zu sein. Er wirkt angespannt und weist einige kleine Ticstörungen auf. So beißt er sich am Rand von Trinkgläsern fest oder zuckt manchmal unkontrolliert mit dem Gesicht. Diese Zwangshandlungen spiegeln sich auch in der Bild- und Tongestaltung des Films wider. Das Stimmengewirr der Arbeitskollegen und der Passagiere am Flughafen scheint omnipräsent zu sein, Straßengeräusche werden bedrohlich laut wiedergegeben. Vor allem in engen Räumen wird die Kamera auf klaustrophobische Weise zunehmend unruhig geführt. Zum Beispiel bei einem Besuch seiner sehr distanziert handelnden Eltern, als Joseph ihnen in der engen Küche bei der Installation einer Waschmaschine helfen will. Als sie am Nachmittag gemeinsam bei einem Stück Kuchen zusammensitzen, beißt Joseph versehentlich ein Stück von seinem Trinkglas ab. Mit blutigem Mund stürmt er panisch vor den besorgten Augen seiner Eltern aus der Wohnung. Von da an geraten die Dinge zunehmend außer Kontrolle. Joseph folgt seinen triebhaften Exkursionen, hält sich nicht mehr an die strikten Regeln seines Arbeitsplatzes, schmeißt seinen Job hin, hetzt eine Londoner Hauptstraße auf und ab und (Achtung: Spoiler!) überfällt schließlich eine Bankfiliale – weil seine Karte von einem Geldautomaten in einem lokalen Off-licence Shop eingezogen wurde.