70. Berlinale: „Surge“ von Aneil Karia



„Surge“ ist gewissermaßen eine Spielfilm-Adaption von Karias Musikvideo-Kurzfilm-Hybriden „Beat“ (2013), in dem Ben Whishaw ebenfalls seinen exzessiven Eskapaden auf einer Londoner High Street nachging. Im Langfilm wirkt die Situation jedoch weitaus dramatischer und bedrohlicher, vor allem da die Figur hier durch die hinzugefügte Rahmenhandlung und eine genauere Verortung in einem anscheinend geregelten Alltagskontext an Komplexität gewinnt, ihre Motivationen aber weiterhin im Unklaren bleiben. Es stellt sich weiterhin die Frage, was Joseph mit seinem hemmungslosen Verhalten eigentlich erreichen will. Macht er sich auf naive Weise über die Gesellschaft lustig, oder verfolgen wir einen krankhaften Kontrollverlust? Genau darin liegt der große Unterhaltungswert dieser scheinbaren Rebellion gegen die Zwänge eines geregelten Lebens und einer geordneten Tätigkeit. Joseph scheint sich nicht über die Konsequenzen seines Handelns bewusst zu sein. Mit einem breiten Grinsen begibt er sich in seltsame und gefährliche Situationen. Falls es sich dabei um Protestakte handelt, wirken diese ziel- und orientierungslos.

Eingefangen wird das sich entfaltende Chaos in großartigen Cinemascope-Aufnahmen von Kameramann Stuart Bentley, der bereits bei „Beat“ mit von der Partie war. In zunehmend wilder zuckenden und kreisenden Einstellungen mit hoher Brennweite wird Joseph im Fokus gehalten, während das Umfeld der belebten Londoner Straßenzüge zunehmend verwischt und unscharf in den Hintergrund rückt. Der ausufernde Grenzgang scheint in einem gewöhnlichen Straßenbild verortet zu sein, gelegentlich schauen Passanten in die Kamera oder verfolgen die Aktionen von Ben Whishaw mit skeptischem Blick. Dadurch wird die schauspielerische Leistung gebührend ins Zentrum des Dargestellten verlagert. Karia erschafft impulsives Körperkino unter Dauerspannung, welches vor allem ein Publikum der Safdie-Brüder („Good Time“) oder der prominenten Musikvideos von Jonathan Glazer („Unkle – Rabbit In Your Headlights“) ansprechen dürfte. Teils absurde Komödie, teils ernstes Drama, funktioniert der experimentelle Film in seinem Zusammenspiel aus anarchistischem Humor und Tragik auch auf Spielfilmlänge.

Henning Koch

„Surge“; Regie: Aneil Karia, Darsteller*innen: Ben Whishaw, Ellie Haddington, Jasmine Jobson, Ian Gelder

Termine bei der Berlinale 2020:
Do 27.02. 22:00 Uhr Zoo Palast 1
Fr 28.02. 13:00 Uhr Cubix 9
Sa 29.02. 22:00 Uhr Zoo Palast 1
So 01.03. 14:30 Uhr Colosseum 1

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