73. Berlinale: LA BÊTE DANS LA JUNGLE von Patric Chiha


LA BÊTE DANS LA JUNGLE © Aurora Films

Warten auf das Leben

Die Geschichte beginnt im Jahr 1979. In einem hippen Pariser Nachtclub sieht die junge May (Anaïs Demoustier) auf einem Balkon den ungelenken John (Tom Mercier) stehen, der auf die Tanzfläche herunterschaut. Vor zehn Jahren waren sie sich bereits bei einer Feier in der französischen Provinz begegnet. Er erinnert sich nicht mehr an diesen Moment. Sie ist mit einigen Freund*innen gekommen und mischt sich euphorisch unter die wogende Menge. Er ist alleine und kann nicht tanzen, worauf er jedoch stolz ist. Dennoch zieht es ihn von da an immer wieder in diesen Club. Vor allem, um sie dort wiederzusehen. Sie kommen ins Gespräch. Wochen vergehen, Monate, Jahre… Er wartet auf ein spektakuläres Ereignis, das sein Leben verändern soll, wie er ihr erzählt. Sie ist von seiner starrköpfigen Geduld fasziniert. Doch trotz ihrer regelmäßigen Treffen bleiben sie auf Distanz.

Der österreichische Regisseur Patric Chiha hat die Erzählung „The Beast in the Jungle“ (1903) von Henry James über die Begegnung zweier Menschen, an denen das Leben vorbeizieht, in das Delirium der endlosen Clubnächte verlegt. Von der Außenwelt und ihrem Alltag sind in LA BÊTE DANS LA JUNGLE nur kurze Ausschnitten zu sehen. Sein Leben da draußen ist nichts Besonderes, gesteht John sich ein. Doch auch innerhalb des Clubs harrt er lieber im Halbdunkel aus, statt sich ganz im Moment zu verlieren und dem exzessiven Geschehen hinzugeben. Aus den Jahren werden Jahrzehnte. Bedeutende historische Ereignisse wie die Wahl von François Mitterrand, der Fall der Berliner Mauer oder die Anschläge auf das World Trade Center flimmern über den Bildschirm an der Bar. Nur May und John altern nicht – zumindest nicht körperlich. Sie scheinen außerhalb der Zeit zu leben, verlorene Sinnbilder, die in der Warteschleife ihrer Schicksale gefangen sind. Beziehungen und Bekannte verlassen sie, um sich anderen Lebenswegen zuzuwenden.

Die AIDS-Krise in den 80er-Jahren trifft die ehemaligen Stammgäste. Sie werden von neuen Gesichtern und neuen Moden ersetzt. Aus melodischer Disco-Musik wird eingängiger House und schließlich harter Techno. Das Treiben auf der Tanzfläche über 25 Jahre spiegelt die Stimmungen und die Drogen der jeweiligen Zeit wider: Vom distanzierten Koks-Chic der 80er über die affektive Aufbruchsstimmung und das E-Talking der 90er hin zu einem düsteren und pessimistischen K-Hole der 00er Jahre. May und John entfernen sich zunehmend von der Tanzfläche und nehmen eine passive Beobachterperspektive als Außenseiter auf dem Balkon ein, wo sie sich einst begegnet sind. Und doch kommen sie sich dabei nie wirklich näher. Auch die Kamera verfolgt das Geschehen auf der Tanzfläche von da an aus einer distanzierten Perspektive. Die einstige Euphorie erlischt und das lebhafte Wimmelbild nimmt aus der Distanz befremdliche Züge an.

Über alldem thront eine herausragende Béatrice Dalle im Stil eines Sven Marquardt als allwissende Erzählerin und strenge Physionomistin an der Tür. Sie deutet die Gesichter der Wartenden und entscheidet, ob ihnen Einlass in diese Zwischenwelt gewährt werden soll. Dalles einstiges Schauspieldebüt in BETTY BLUE (1986) hat maßgeblich zur französischen Filmbewegung des „Cinéma du look“ beigetragen. In LA BÊTE DANS LA JUNGLE zeigt sich diese hyperstilisierte Ästhetik im hervorragenden Zusammenspiel der hypnotischen Gestaltung und der Musik. John und May agieren als hyperreale Simulacren, die eine Realitätsflucht und den unerfüllbaren Wunsch nach etwas Größerem verkörpern. Ihre melodramatischen Dialoge wirken artifiziell, ihre verborgenen Innenleben ermöglichen keine direkte Identifikation mit ihren Schicksalen. Doch gerade in dieser rauschhaften Zelebrierung des Filmmediums, wie sie auch in den Werken von Gaspar Noè (VORTEX) zu finden ist, beschreibt Patric Chiha eine ästhetische Erfahrung von Entfremdung, die auch jenseits der Clubkultur zeitlos erscheint.

Henning Koch

LA BÊTE DANS LA JUNGLE, Regie: Patric Chiha, Darsteller*innen: Anaïs Demoustier, Tom Mercier, Béatrice Dalle, Martin Vischer, Sophie Demeyer

Termine bei der 73. Berlinale:
Freitag, 17.02.2023, 18:30 Uhr, Zoo Palast 1
Samstag, 18.02.2023, 12:00 Uhr, Haus der Berliner Festspiele
Sonntag, 19.02.2023, 10:00 Uhr, Cubix 7
Montag, 20.02.2023, 19:00 Uhr, Cubix 2
Samstag, 25.02.2023, 15:30 Uhr, Cubix 9