MAL VIVER & VIVER MAL von João Canijo


MAL VIVER © Midas Filmes

In den Schaufenstern des Lebens

Wer MAL VIVER sagt, sollte auch VIVER MAL sagen – oder so ähnlich. Die beiden Werke des Portugiesen João Canijo gehören zusammen und erzählen in unterschiedlichen Episoden und aus verschiedenen Perspektiven von einigen Tagen in einem alternden Luxus-Hotel.

Am Laufen gehalten wird es als Familienbetrieb oder präziser als Frauenbetrieb. Die Männer sind der Familie abhanden gekommen, zuletzt Salomés Vater, der Ex-Mann von Piedade verstarb, weshalb die Jüngste das heimische Nest und Wärme ihrer Mutter sucht, die die Geschäfte des Hotels führt, während ihre Mutter Raquel, Salomés Großmutter, den Laden als Matriarchin schmeißt. Sie ist es, die die Stammgäste seit Jahren kennt, den Spirit des Hauses erhält und vor allem den schönen Schein wahrt.
Denn Probleme gibt es derer reichlich! Dass das Hotel nur noch von wenigen Gästen gebucht wird, ist ein eher kleineres, es sind die toxischen Beziehungen der Frauen unter- und miteinander, die alle an ihre Grenzen bringen.

Canijo zeichnet diese (seine) dunklen, beschädigten Figuren mit ruhiger Hand. Er gewährt ihnen verächtliche Blicke, bissige Kommentare, lässt sie einander belauschen, während sie sich das Maul über die andere(n) zerreissen, lässt sie stumm und laut weinen und schreien. Immer im Hintergrund, mal als Rahmenhandlung, dann als Kulisse: Die Gäste des Hotels…

… womit wir bei VIVER MAL wären. In drei weiteren Episoden gewährt João Canijo uns Einblicke in deren Leben. Wir sehen sie am Pool, im Restaurant und durch die Fenster ihrer beleuchteten Zimmer.
Influencerin Camila will den darbenden Schriftsteller Jaime verlassen und die Affäre mit dessen besten Freund vertiefen.
Alexandre ist nicht zufällig mit seiner Frau Graça und seiner Schwiegermutter Elisa angekommen, er wechselt wie selbstverständlich zwischen den Zimmern der Frauen hin und her.
Oder Judite, die neben Tochter Júlia auch noch deren Partnerin Alice mit in den Urlaub genommen hat. Dabei ist in der Mutter-Tochter-Beziehung kein Platz für jemanden anderes, wenn es nach ihr geht.

Jeder Blick hinter die nur mäßig gut gehübschten Fassaden, die die Protagonist_innen um sich und ihre Leben herum errichten, offenbart Abgründe und Gemeinheiten, zu denen nur die fähig sind, die einen doch vorbehaltlos lieben sollten: Die Familie.
Stünde das Hotel als Sinnbild für die Gesellschaft, jede Hoffnung wäre vergebens.
Aber so funktionieren die Familienaufstellungen als Experiment, das uns die unschönen Seiten von uns Menschen anhand Grausamkeitsminiaturen beschreibt. Besser geht es uns mit dem Wissen darüber nicht und doch schauen wir nicht weg.
Wer blickt nicht gerne durch erleuchtete Fenster für einen Moment in das Leben der anderen?!?

Warum die 73. Berlinale die beiden Werke MAL VIVER und VIVER MAL getrennt hat, erscheint fragwürdig. MAL VIVER wurde im renommierten Wettbewerb exponiert – und das Werk dort mit einem Silbernen Bären, dem Preis der Jury, ausgezeichnet, während das Festival VIVER MAL im Encounters Wettbewerb platzierte.
Sicher, auch wenn beide ohne einander funktionieren, lohnt der Blick auf das Ganze sehr!

Denis Demmerle

MAL VIVER, Regie: João Canijo; Darsteller_innen: Anabela Moreira, Rita Blanco, Madalena Almeida, Cleia Almeida, Vera Barreto

VIVER MAL; Regie: João Canijo; Darsteller_innen: Nuno Lopes, Filipa Areosa, Leonor Silveira, Rafael Morais, Lia Carvalho