75. Berlinale: A COMPLETE UNKNOWN von James Mangold

THE TIMES THEY ARE A-CHANGIN‘
Anfang der 1960er Jahre kommt ein junger Mann nach New York, um sein Idol im Krankenhaus zu besuchen. Woody Guthrie (Scoot McNairy), Folklegende und linker Liedermacher, ist aufgrund einer schweren Nervenkrankheit nur noch ein Schatten seiner selbst. Der junge Mann bringt ihm ein Ständchen und Guthrie und der ebenfalls anwesende Folkbarde Pete Seeger (Edward Norton) sind begeistert. In den folgenden Jahren wird der rebellische junge Mann mit Seegers Unterstützung unter dem Namen Bob Dylan (Timothée Chalamet) zum größten Star der Folkszene aufsteigen.
Mit A COMPLETE UNKNOWN kehrt Regisseur James Mangold zum Genre des Musical-Biopic zurück, in dem er zuletzt mit dem Johnny Cash-Film WALK THE LINE (2005) überaus erfolgreich war. WALK THE LINE stand am Anfang einer ganzen Schwämme von Musiker-Biographien, die in den vergangenen Jahren in die Kinos kamen. Kommerziell und auch Awards-technisch erfolgreich – neben WALK THE LINE konnten auch RAY (über Ray Charles, 2004), LA VIE EN ROSE (Edith Piaf, 2007), BOHEMIAN RHAPSODY (Freddie Mercury/Queen, 2018), JUDY (Judy Garland, 2019) oder THE EYES OF TAMMY FAYE (Tammy Faye, 2021) Oscars für ihre Hauptdarsteller_innen gewinnen – ist den meisten dieser Filme aber eine gewisse Formelhaftigkeit zu eigen, die über einen bebilderten Wikipedia-Eintrag selten hinaus weist.
Lediglich der Elton John-Film ROCKETMAN (2019) wagte, aus den Hits seines Helden ein flamboyantes biographisches Musical zu stricken, das die Songs in die Handlung einbettete und ihnen so eine neue Bedeutung gab. Das war zwar auch nicht in jeder Beziehung gelungen, unterschied sich aber doch wohltuend von den ewig gleichen Erzählungen über junge aufstrebende Musiker, die erste Erfolge feiern, dann wegen Alkohol- oder Drogenexzessen oder ähnlichem abstürzen, um dann wieder in die Spur und zum Comeback zu finden (oder tragisch zu sterben). In den meisten dieser Filme wird die Musik dann zur Nebensache und als eine Art Best Of der Greatest Hits in Konzertsimulationen nachgestellt.
Auch in A COMPLETE UNKNOWN wird sehr viel gesungen. Gut die Hälfte des Films besteht aus Bühnenauftritten Dylans, Seegers, Johnny Cashs (Boyd Holbrook) oder Joan Baez’, die von Monica Barbaro mit betörend schöner Stimme intoniert wird. Und doch unterscheidet sich Mangolds Film vom Gros der Musical-Biopics, weil Dylans langes und interessantes Leben eben nicht von der Kindheit über die ersten Erfolge, die verschieden künstlerischen Phasen bis hin zur Never Ending Tour und dem Literaturnobelpreis durchgespielt wird. Wäre ja auch möglich gewesen.
Stattdessen bleibt A COMPLETE UNKNOWN dankenswerterweise in dem relativ schmalen Handlungsraum von 1961-1965. In dieser Zeit steigt Dylan zum Superstar zunächst der Folkszene und dann der Rockmusik auf. Am Ende dieser Entwicklung steht 1965 der Bruch mit den Folk-Puristen auf dem Newport Folk Festival. „Dylan goes electric“ wurde diese Hinwendung zur populäreren Rockmusik später genannt. Für den Freigeist Dylan aber war sie eine logische Konsequenz – der Ausbruch aus einem starren musikalischen Korsett, dem Dylan aber einige seiner schönsten Songs verdankt.
Mangolds Film darf getrost zu den besseren dieses oft eintönigen Subgenres gezählt werden. Kamera, Ausstattung, Kostüme, Sound – alles findet hier auf höchstem Niveau statt. Man kann mit A COMPLETE UNKNOWN in eine Zeit ein- und in eine New Yorker Künstler- und Musikerszene abtauchen. Der Film vermittelt ein gutes Gefühl für die Stimmung jener Jahre, kurz vor dem Aufbruch in eine neue Epoche. Der Rock & Roll hat seine erste Energie verloren. Folk gilt als die ehrlichere, authentischere Musik und spricht die politischen Themen der Jugend an. Beatlemania, Vietnam Proteste und Hippie Ära werden noch kommen und Bob Dylan singt in Newport „The Times They Are A-Changin’“ – gewiss der stärkste Moment im ganzen Film.
Es ist natürlich hilfreich, dass A COMPLETE UNKNOWN darüberhinaus von einem superben Ensemble getragen wird, in dessen Zentrum Timothée Chalamet einen enigmatischen, nicht immer sympathischen Charakter spielt, dem mit Elle Fanning und Monica Barbaro zwei sehr unterschiedliche Partnerinnen zur Seite gestellt werden. Beide sind nicht dazu verdammt, hübsche Gespielinnen zu sein. Vielmehr stellen sie die dunklen Seiten des Helden heraus, bereit, sich von ihm (wenn auch unter Schmerzen) zu emanzipieren. Edward Norton darf zunächst den freundlichen Förderer mimen, der neidlos anerkennt, dass Dylans Talent das seine weit überragt. Doch will er Dylans Popularität auch für seine Agenda nutzen und entwickelt sich, als dieser sich vom Folk abwendet, zum Antagonisten der Geschichte. Alle Songs im Film – und wie gesagt, es sind sehr viele – wurden von den Darstellern selbst eingesungen.
Am Ende hat man eine Art knapp zweieinhalb Stunden Konzertfilm gesehen, der von einigen erklärenden Spielszenen unterbrochen wird. Das macht aber nichts, wenn die Musik so gut ist. Wenn A COMPLETE UNKNOWN, dem der deutsche Verleih ein vollkommen unnötiges LIKE im Titel voranstellt, den einen oder die andere animiert, sich mal wieder mit dem frühen Bob Dylan zu beschäftigen und seine Songs anzuhören, gibt es daran nichts auszusetzen. Dem Genre kann der Autor auch nach A COMPLETE UNKNOWN nur wenig abgewinnen. Er gibt aber zu, dass der Film ihn ganz gut unterhalten hat.
Oscarnominierungen: Bester Film, Regie, Drehbuch, Hauptdarsteller, Nebendarstellerin, Nebendarsteller, Sound, Kostüme
Thomas Heil
A COMPLETE UNKNOWN , Regie: James Mangold, Darsteller_innen: Timothée Chalamet, Edward Norton, Elle Fanning, Monica Barbaro, Scoot McNairy, Boyd Holbrook, Michael Chernus, Dan Fogler u.v.a.