„A moi seule“ von Frédéric Videau


Agathe Bonitzer in "A moi seule"

Agathe Bonitzer in "A moi seule"

Domestizierung eines Menschen

Ein entführtes Mädchen, dem nach jahrelangem Aufenthalt im Haus ihres Entführers die Flucht gelingt. Das klingt nach dem Fall der 2006 geflohenen Österreicherin Natascha Kampusch. Regisseur Frédéric Videau bestreitet, dass sein „A moi seule“ („Coming Home„) Ähnlichkeiten aufweise oder er gar vom schrecklichen Schicksal Kampuschs inspiriert sei. Eine Sicht, die der Franzose ob eindeutiger Parallelen wohl noch des Öfteren verteidigen muss. Doch das soll nicht Thema sein. Spannender ist sein Werk als solches, egal ob dem nun Interpretation oder Inspiration zu Grunde liegt.

Ohne Anlass haut Reda Kateb (Vincent Maillard) seinem Kollegen mit der Faust auf die Nase, um nur wenige Momente später in seinem Wagen vom Parkplatz zu brausen und in sein umzäuntes Grundstück einzubiegen. Seine Kollegen werden in nie wieder sehen. Statt wie sonst hinter sich zu verriegeln, bleibt das hohe Tor offen. Ebenso die schwere Luke im hintersten Eck seines Hauses, die den Abstieg in ein Verlies ermöglicht, in welches er bis zu diesem Tag über viele Jahre Gaëlle (Agathe Bonitzer) eingekerkert hatte. Er verzichtet auf all die Zwangsmaßnahmen, die das Schicksal der beiden so lange miteinander verknüpfte. Gaëlle, die in den Jahren ihrer Gefangenschaft vom kleinen Mädchen zur jungen Frau wurde, zögert für einen Moment ungläubig, ehe sie begreift und flieht. Sie rennt um ihr Leben. Nur weg. Erst an einer Bushaltestelle hält sie inne und entdeckt ein von der Zeit gezeichnetes Bild eines vermissten Kindes. Ihr Bild. Sie kann sich retten.

Überrascht, aber überglücklich schließt ihre Mutter die Frau, die einst ihre kleine Tochter war, in die Arme, doch die erwidert nur halbherzig. Zu viel ist geschehen. In Rückblenden lässt Videau seine Zuschauer erfahren, wie Gaëlles Leben mit Reda aussah. Er zeigt frühe, unbeholfene Fluchtversuche des Mädchens und Sanktionen, die darauf folgten. Die Domestizierung eines Menschen. Keine sexuellen Übergriffe – es ist Hingabe, mit der Reda sein Opfer bei Laune zu halten versucht. Er zeigt Augenblicke, in denen Entführer und Entführte an ein altes Ehepaar erinnern. Ganz offensichtlich Nähe teilen und gemeinsam Spazierfahrten mit dem Auto unternehmen. Das Phänomen, wenn Opfer ein positives Verhältnis zum Entführer aufbauen, beschreiben Psychologen als Stockholm-Syndrom.

Videau, der mit Gaëlle eindeutig das Opfer in den Fokus seiner Erzählung rückt, beschreibt in „A moi seule“ deren Schwierigkeit, in ein Leben zurück zu kehren, das sie so nie gelebt hat und das Verhältnis zum Entführer. Die erdrückende Liebe der Mutter befremdet sie sogar mehr, als die anfängliche Distanz des Vaters. Die Ehe der Eltern war am Schicksal zerbrochen, wie vieles. Doch vielmehr als das was geschah, während sie den Eltern entrissen wurde, interessiert Gaëlle, was wohl aus Reda wird, den die Polizei sucht.

Fälle wie der von Natascha Kampusch faszinieren und rufen natürlich cineastische Interpretationen hervor. Was treibt Menschen zu solch unmenschlichem Handeln? Was macht es mit den Opfern? Frédéric Videau entscheidet sich für die zweite Frage – ohne sie abschließend zu beantworten. Und doch gelingt ihm eine packende Studie, die die Tragweite der Tat und deren Folgen für das Opfer beleuchtet. Andere Aspekte wären nicht weniger interessant, doch die Entscheidung Videaus ist plausibel und seine Inszenierung des Unvorstellbaren wohltuend effektarm und wenig reißerisch.

Denis Demmerle

Berlinale-Termine: So 19.02., 22.30 Uhr, International