An den Rändern Berlins


So ein Menschenwimmeln gibts im Film eher selten: BERLIN JWD © Kino Krokodil Verleih, Bernhard Sallmann

Bernhard Sallmanns BERLIN JWD

Der historische Blick auf Berlin ist oft sehr auf das Zentrum fokussiert. Oder sagen wir: Alles innerhalb des Rings, wenn es nicht BER heißt. Das Schlösser-Aufbauen, Alteingesessene-Verdrängen in KreuzköllnWeddinganderswo, Liebig34, Prestige-Museen. Städtebauliche Rampenlicht-Vorhaben. Die stetige und oft lapidare Veränderung der Stadt an sich, ihr Gedeihen, Wuchern, Kaputtgehen ist da oft Nebensache. Doch genau dahin will Bernhard Sallmann mit seiner neuen Dokumentarfilmstudie BERLIN JWD. Ganz ohne ideologischen Überbau, ohne klare These geht Sallmann an Berliner Orte, die – so die vorangestellte Info im Film – Ende des 19. Jahrhunderts, nach der Gründung des Deutschen Reiches und Ausrufung Berlins zur Hauptstadt 1871, für viele Einwohner*innen in der schnell wachsenden Stadt zu Naherholungsorten wurden. Pause machen in „JWD“, eben janz weit draußen. Schönholzer Heide, Stralau, Wuhletal. Und viele andere (frühere) Berliner Stadtränder – die vielleicht nicht so geläufig sind – mehr.

Sommerfrische-Freude findet sich in Sallmanns oft kontemplativen, statischen Kameraeinstellungen eher nicht. Dafür oft gähnende Leere, Verfall. Sehr wenige Menschen, erst recht keine Naherholungstourist*innen. Und Sallmann hat sich wirklich nicht die pittoresken Gebäude und Landschaften herausgesucht, oft Nebenkulissen, die er manchmal nicht zu ihrem Vorteil vor die Linse holt, sondern ein bisschen aus dem Fokus der Kamera rückt. Der Schrottplatz am Westhafen. Die Trabrennbahn Karlshorst. Die Ruine der Gaststätte auf der ehemaligen Westseite des Grenzübergangs Dreilinden, die früher ein Forsthaus war. Der Berliner Rundfunk 88.8 weiß dazu: Vor diesem Forsthaus sollen laut Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ tatsächlich einmal drei Linden gestanden haben.

Fontane ist ein beständiger Sallmannscher Begleiter. Schließlich hat der österreichische Filmemacher, der seine Filme der Berliner Umgebung und der Lausitz widmet, schon viermal dem Schriftsteller die Ehre erwiesen: HAVELLAND.FONTANE (2019) SPREELAND.FONTANE (2018) RHINLAND.FONTANE (2017) und ODERLAND.FONTANE (2016). In dieser Tetralogie kontrastiert er wunderbare ortsbezogene Textpassagen aus den titelgebenden Fontane-Werken mit den Orten im Hier und Jetzt.

In BERLIN JWD verzichtet er gänzlich auf Textpassagen und Dialog. Die akustische Stadtkulisse ist die einzige Ton- und Soundebene. Visuell und akustisch sind die Zuschauer*innen also aufgefordert, selbst Sommerfrische kurz vor und um 1900 zu imaginieren. Den damaligen Ort und die vergangene Zeit. Oder einfach das bisweilen deprimierende heutige Berlin ohne Eile anzugucken. Das ist ungewohnt – und sehr schön, wobei es die oft winterliche Kulisse nicht einfach macht. Und beim genauen Schauen schleicht sich in manche Bilder dann auch eine Spur Humor, die das stille Moment bereichert. Der betagte Jogger, der ganz gehetzt auf dem Friedhof joggt. Der Bahnhof Siemensstadt mit dem unvollständigen Schild _HOF SIEMNSSTADT. Oder auch eine Immobilienfirma mit dem großen, ironiebefreiten Anschlag INFOBÜRO DICHTERVILLEN IN KARLSHORST an einer viel befahrenen, dunkelstaubigen Straße (die Firma meints ernst, wie die Website verrät – auch ein Wohnquartier Fontane entsteht; Goethe gibts natürlich auch).

Durch seine unaufgeregte, minimalistische Inszenierung ist BERLIN JWD sicherlich für viele Besucher*innen eher Antikino. Alle anderen können mit Sallmanns Film auf Peripherie-Entdeckungsreise gehen, ein bisschen Stadtgeschichte erahnen. Und bewundern, wie Sallmann als stiller Chronist der vergänglichen Städte und Landschaften so konsequent weiter seine Runden dreht.

Marie Ketzscher