„Mutter & Sohn“ von Calin Peter Netzer
Krankhafte Mutterliebe
Zum ersten mal ging in diesem Jahr der Goldene Bär der Berlinale an einen rumänischen Film: Das Drama „Mutter & Sohn“ („Child’s Pose„) von Calin Peter Netzer erzählt von krankhafter Mutterliebe und zeichnet zugleich das Bild korrupter Machenschaften im heutigen Rumänien.
Am Anfang möchte man sie am liebsten schütteln und ihr ins Gehirn meißeln, dass sie doch bitte ihren erwachsenen Sohn in Ruhe lassen möge. Wenn Cornelia (Luminita Gheorghiu, „4 Months, 3 Weeks and 2 Days„, 2007) qualmend und mit markant lackierten Fingernägeln mit einer Freundin zusammensitzt und über die langjährige Freundin ihres Sohnes lästert, schluckt man als Zuschauer bereits das erste Mal. Erst recht, wenn Cornelia als Beschwerdegrund angibt, dass sie keinen Schlüssel zu deren gemeinsamer Wohnung besäße. Die 60-jährige hat ihr Leben zwischen noblen Empfängen und Theaterabenden vor allem auf einer ausgeprägten Obsession für ihren Sohn Barbu (Bogdan Dumitrache, „Best Intentions„, 2011) aufgebaut.
In dem Psychodrama „Mutter & Sohn“ erzählt der rumänische Regisseur Calin Peter Netzer die Geschichte einer Frau aus der Oberschicht, die sich zunehmend in das Leben ihres erwachsenen Sohnes drängt. Was am Anfang noch der mütterlichen, aber krankhaften Eifersucht auf die Schwiegertochter geschuldet ist, erwächst im Verlauf des Films zur puren Grenzüberschreitung und Rücksichtslosigkeit. Als Barbu auf der Landstraße einen Unfall verursacht, bei dem ein Kind stirbt, schlägt Cornelia mit einer ungeahnten Vehemenz im Polizeirevier auf. Während sich ihr Sohn mit wenig Widerstand dem Schicksal hingibt, versucht sie mit aller Macht, eine unangenehme polizeiliche Ermittlung und eine Haftstrafe für ihren Sohn zu verhindern. Selbst vor Bestechung schreckt Cornelia nicht zurück. Vielleicht kann eine kleine Geldsumme den Eltern des toten Kindes über den Verlust hinweghelfen.
Die große Kunst des Regisseurs ist es, dass er mit unaufgeregten Bildern größte Spannung erzeugt. Bis auf die Minute genau rekonstruiert Netzer in seinem Film den Ablauf jener Unfallsnacht und bleibt seinen Figuren in den darauf folgenden Tagen dicht auf den Fersen. Immer enger spannt der Filmemacher das Netz um alle Beteiligten – und auch um den Zuschauer. Durch seine halbdokumentarische, entdramatisierte Erzählweise sind wir bald mit im Verhörraum eingesperrt oder an den Küchentisch gefesselt, während wir tief in das verbitterte Gesicht Cornelias blicken. Schnell zeichnet sich unter dem Deckmantel der Oberschichtendame eine zunehmend von Eigenliebe besessene Mutter ab, die alles daran setzt, die längst zerrissenen Familienbande wieder zu kitten und den verlorenen Sohn in den heimeligen Hafen zurückzulotsen.
Netzers „Mutter & Sohn“ ist nicht nur ein nervenzehrendes Familienpsychodrama, sondern zugleich eine unsentimentale Studie über das heutige Rumänien. Mit seinem Film und der würdigen Auszeichnung mit dem Goldenen Bären reiht er sich in eine jüngere Erfolgsgeschichte des rumänischen Kinos ein, das in den vergangenen Jahren immer wieder wichtige Preise auf internationalen Festivals gewann.
Eileen Reukauf
„Mutter & Sohn„ Regie: Calin Peter Netzer, Drehbuch: Razvan Radulescu, Calin Peter Netzer, Darsteller: Bogdan Dumitrache, Vlad Ivanov, Luminiţa Gheorghiu, Mimi Branescu, Natasa Raab, Florin Zamfirescu, Ilinca Goia, Kinostart: 23. Mai 2013