„Everybody in Our Family“ von Radu Jude


Eine Familie der Mittelschicht

Eine Familie der Mittelschicht

Grenzgehen zwischen Liebe und Hass

Paare lernen sich immer zweimal kennen, am Anfang und am Ende der Beziehung. Während man beim Verlieben oft nur die schönen und angenehmen Seiten des Anderen zu sehen bekommt, kann eine Trennung manchmal ganz schön hässlich werden, vor allem, wenn das Ende des Zusammenseins nicht im gegenseitigen Einvernehmen beschlossen wird. Wie dramatisch, explosiv und feindselig dann oft im Nachhinein noch unausgesprochene Gefühle hochkochen, das zeigt „Everybody in Our Family“ („Toată lumea din familia noastră„) von Radu Jude.

Zunächst macht der Film einen absolut harmlosen Eindruck. Marius wacht etwas verkatert in seiner Wohnung auf, packt seine Sachen zusammen und fährt mit dem von den Eltern geliehenen Auto zu seiner Exfrau Otilia, um die gemeinsame Tochter in die Ferien mitzunehmen. Aber ab hier erlebt der Zuschauer das sich anbahnende Familiendrama von Anfang bis Ende in Echtzeit und aus extremer Nähe mit. Otilia ist nicht da, dafür aber ihr neuer Lebensgefährte Aurel und ihre Mutter. Als die kleine Sofia abreisefertig ist und Marius mit ihr die Wohnung verlassen will, hat Aurel plötzlich Einwände. Wo vorher nur ein ironischer Umgangston das problematische Verhältnis zwischen den beiden Männern andeutete, wird jetzt mal Klartext gesprochen.

Aurel will im Auftrag von Otilia handeln, Marius will die ihm zustehende Zeit mit seinem Kind. Einen ersten Bruch gibt es, als Marius seinem Nachfolger beabsichtigt oder ausversehen, man weiß es nicht, die Wohnungstür gegen den Kopf knallt. Brüchig wird hier nun auch die Sympathie des Zuschauers mit Marius, war er doch die erste etablierte Figur, die die Kamera von Anfang an begleitet hat. Marius, der liebevolle, treusorgende Vater wird plötzlich jemand Anderes – aggressiv, gewalttätig, ignorant.

Otilia taucht schließlich auf, behandelt Marius zunächst wie Luft und als sie von dem Zwischenfall mit Aurel erfährt, will auch sie nicht, dass ihr Exmann die kleine Sofia mitnimmt. Die ist übrigens von der Auseinandersetzung an der Wohnungstür so durcheinander, dass sie sowieso nicht mehr mitkommen will und sich stattdessen in einem Pappkarton verkriecht. Dass Kinder im Regelfall die tatsächlichen Opfer sind, wenn die eigenen Eltern einen bitterbösen Kampf austragen, floss ebenso in diese Familienbeobachtung von Radu Jude mit ein: Es wird geschrien und geheult, Türen werden zugeknallt und vulgäre Beschimpfungen ausgeteilt.

Und nein, das hier ist nicht die Klischee-Asi-Familie. Das ist die Mittelschicht. Wenn die Diskussion völlig aus dem Ruder läuft, wird meist – auch das ist ein bekanntes Druckmittel – die Polizei gerufen, was Otilia nach mehreren Drohungen schließlich macht. Nun brennen bei Marius alle Sicherungen durch: Aus Angst vor der Festnahme knebelt und fesselt er Aurel und Otilia, stellt alle Telefone ab und verschanzt die Wohnung. Was ist aus diesem Mann geworden und wie bringt er es fertig, so etwas zu tun? Marius ist ein Beispiel dafür, was passiert, wenn die Gefühle die alleinige Kontrolle über das eigene Handeln ergriffen haben und das rationale Denken abgeschaltet wird. Er ist deshalb kein schlechter Mensch, nur jemand, der sich von seiner Verzweiflung beherrschen lässt, denn Marius liebt Otilia immer noch.

In diesem Drama gibt es kein Gut und Böse mehr, alle sind gleichermaßen gefangen in der Situation, die sich in einer kleinen Wohnung abspielt und das unbemerkt von der Außenwelt. „Everybody in Our Family“ verdankt seine mitreißende, höchst emotionale und authentische Wirkung einer exzellenten Besetzung, die den Stoff so überzeugend umsetzen konnte, dass selbst der Zuschauer an den Rand der Verzweiflung getrieben wird und förmlich mitleidet. Man mag geteilter Meinung darüber sein, ob solche Szenarien sich regelmäßig innerhalb zerrütteter Familien mit einer derartigen Intensität zutragen, aber man sollte nie unterschätzen, was sich hinter verschlossenen Türen abspielen kann. Und das ist genauso sicher, wie die Erkenntnis, dass Liebe und Hass manchmal verdammt nah beieinander liegen.

Alina Impe

Berlinale-Termine: Mi 15.02., 22.15 Uhr, Cubix 9, Do 16.02., 14 Uhr, Delphi Filmpalast, Fr 17.02., 16.30 Uhr, CineStar 8