„Sag nicht, wer du bist“ von Xavier Dolan


Regisseur Xavier Dolan übernimmt in "Sag nicht wer du bist" auch die Hauptrolle. Foto: Kool Film

Regisseur Xavier Dolan übernimmt in „Sag nicht wer du bist“ auch die Hauptrolle. Foto: Kool Film

Die Lügen eines Toten aufrechterhalten

Eine rührende Botschaft mit Filzstift auf Zellstoff festgehalten. Ein abgerocktes Auto, in dem ein junger Mann sitzt, Kippe raucht und Musik hört. Tom hockt mit Strubbelhaar, Lederjacke und runder Retrobrille hinterm Steuer und überhaupt sieht alles so lässig aus, dass der Eindruck entsteht: hier beginnt ein Roadtrip-Movie in Indiekino-Manier. Doch weit gefehlt. Der homosexuelle Tom ist auf dem Weg von Montreal zu einem Hof mitten im kanadischen Nirgendwo. Ein Schicksalsschlag treibt ihn an, denn sein Lover Guillaume ist bei einem tragischen Unfall umgekommen. Nun will Tom ihm die letzte Ehre erweisen bei der Beerdigung in seinem Heimatort.

Trüb, trist und vom regnerischen Dunstschleier verhangen begrüßt der verlassene Hof den jungen Mann. Auch im Haus findet sich keine Menschenseele – Tom checkt schnell: niemand erwartet ihn. Als schließlich die Mutter seines verstorbenen Freundes auftaucht ist alles klar: niemand hier weiß von Tom und erst recht nicht von Guillaumes Homosexualität. So fügt er sich erst einmal der Situation, gibt sich als Arbeitskollege aus, bis er Francis, den Bruder, dessen Existenz Guillaume ebenfalls verschwiegen hat, ein weiteres unbekanntes Familienmitglied kennenlernt. Von da an kippt die Stimmung schlagartig in die eines Thrillers. Nach dem Tod des Vaters und Bruders liegt die volle Kontrolle des Hofes in Francis‘ Händen. Er macht Tom mit Nachdruck klar, dass er von der Homosexualität seines Bruders wusste, aber seine Mutter gefälligst nie etwas davon erfahren soll.

Tom verhält sich unauffällig und will nach der bewegenden Beerdigung sofort das Weite suchen. Diese Rechnung hat er ohne Francis gemacht. Die Stadtmentalität von Tom trifft auf die raue Landmentalität, die Francis geprägt hat. Er zwingt Tom, noch bei der Familie zu bleiben und der Mutter zu erklären, warum die vermeintliche Freundin seines Bruders nicht aufgetaucht ist. Es beginnt ein Katz und Maus Spiel aus Erniedrigung und Faszination zwischen Francis und Tom, das sie hinter dem Rücken der Mutter austragen. Der Strick aus Francis‘ Anweisungen und Psychospielen legt sich immer fester um Toms Hals. Dass mit dem gewaltbereiten Bruder etwas ganz und gar nicht stimmt, wissen auch die Dorfbewohner längst. Taxifahrer steuern den Hof niemals direkt an und alle umliegenden Diners und Bars haben Francis striktes Hausverbot erteilt. Tom bleibt viel länger auf dem Hof als geplant und wird dabei immer wieder Opfer der brutalen Übergriffe von Francis, den das Leben auf dem Hof abseits der Zivilisation mächtig frustriert. Spätestens als Tom erneut die Flucht ergreifen will und er sein Auto zerlegt in der Garage auffindet, wird klar: er ist mittlerweile eher Gefangener als Gast. Eine Frage liegt dabei drückend über allem: wie lange geht dieses Spiel noch gut und warum befreit sich Tom nicht aus seiner Opferrolle?

Hier einige Eindrücke des FIPRESCI gewinners vom Filmfestival Venedig (2013)…

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