SCHATTEN DER NACHT von Türker Süer


SCHATTEN DER NACHT © Real Fiction Filmverleih
SCHATTEN DER NACHT © Real Fiction Filmverleih

Wegweiser



Sinan (Ahmet Rifat Sungar) ist Leutnant in der türkischen Armee und erhält von seinem Vorgesetzten den Auftrag, seinen Bruder Kenan (Berk Hakman) an einen Militärstützpunkt zu bringen – dort soll ihn ein Militärtribunal verurteilen. Sinan ist ein guter Soldat, er gehorcht. Zu Hause zweifelt seine Frau an der Sinnhaftigkeit der Mission. Sinan hält dagegen: Er habe keine Wahl. Wirklich überzeugt scheint er nicht. Es tasten sich die ersten Fühler eines Verdachts vor: Vielleicht ist Sinan ja gar kein treuer Anhänger des Systems, vielleicht steckt er nur zu tief drinnen und weiß nicht, wie er wieder rauskommen soll. Vielleicht hat er ja eigentlich Angst?

Davon, irgendwelche Gefühle zuzugeben, ist Sinan allerdings weit entfernt. Er beißt die Zähne zusammen, hält sich an die Regeln und ignoriert seinen Bruder Kenan, auch wenn der ihn während der Autofahrt durchs Nirgendwo so intensiv anstarrt, dass es irgendwann unangenehm wird.
Regeln und Gehorsam helfen nur noch wenig, als plötzlich ein Militärputsch ausbricht. Die kleine Gruppe aus drei Soldaten und zwei Gefangenen fährt im Transporter durch die Nacht, während sich die Nachrichten im Radio überschlagen. Sinan erreicht seinen Vorgesetzten nicht mehr. Der Militärstützpunkt ist anscheinend zum Sitz der Putschisten geworden und die Gruppe steuert kurzerhand eine andere Basis an. Die angespannte Stimmung im Auto ist im Vergleich zur Situation auf dem Stützpunkt heiter-ungezwungen. Wem kann Sinan hier überhaupt vertrauen? Kenan scheint mehr über den Putsch zu wissen (oder zu ahnen), als er zugibt. Im Laufe der Nacht wird Sinan selbst in einer Zelle landen.

Regisseur Türker Süer verarbeitet in dieser Mischung aus Familiendrama und Zeitgeschichte den Militärputsch von 2016, bei dem zahlreiche Zivilist*innen ums Leben kamen und dessen repressive Folgen die Türkei bis heute bestimmen. Stilistisch iszt der Film ein parabelhafter Thriller. Die beiden Brüder können für verschiedene Strömungen innerhalb der türkischen Gesellschaft stehen, für Mitmachen und Widerstand leisten. Gewalt bestimmt den Film von Anfang an – zunächst vor allem systematisch als Drohung und Unterdrückung. Erst ganz am Ende bricht die Gewalt als körperlicher Angriff aus und kommt aus einer anderen Richtung als erwartet. Sinans Überzeugung, die vielleicht gar keine ist, seine Schutzhülle des Gehorsams wird im Laufe der Nacht Risse bekommen, die Frage ist, ob sie tatsächlich aufbricht.

IM SCHATTEN DER NACHT spart mit Erklärungen und Kontext, was anfänglich zur Spannung beiträgt, am Ende aber etwas zu viel Verwirrung stiftet, weil fast alles unklar bleibt. Die Figuren und ihre Dialoge sind metaphorisch aufgeladen. Ihre Bedeutung scheint oberflächlich einfach zu entziffern, bleibt in der Tiefe aber kryptisch – das Drehbuch setzt Wissen über die türkische Politik der Gegenwart voraus.
Die gegenwärtige Situation in der Türkei, wo Tausende Menschen trotz Verboten, Repressionen und Gewalt gegen Präsident Erdoğan und seine Regierung auf die Straße gehen, verleiht der Gesellschaftskritik in Türker Süers Film eine neue Dimension. Es ist, als wären die Demonstrierenden dem Protagonisten Sinan einen Schritt voraus – sie haben sich schon für Protest und Widerstand entschieden. Die Frage ist natürlich, was geschehen wird, und was bleibt – aber für den Moment ist es schön, dass der Film nicht der Gesellschaft den Weg weist, sondern andersherum.