„Tomboy“ von Céline Sciamma


Zwischen den Geschlechterrollen: Das Mädchen Laure als Michael in "Tomboy"

Zwischen den Geschlechterrollen: Das Mädchen Laure als Michael in "Tomboy"

Das Geheimnis eines Sommers

Es sind Sommerferien. Etwas schüchtern steht der zehnjährige Michael am Rande eines Bolzplatzes, neben ihm die gleichaltrige Lisa, die er erst kurz zuvor kennengelernt hat. Mal wieder sind Michaels Eltern umgezogen und mal wieder muss er sich mit den anderen Kindern in der neuen Nachbarschaft anfreunden. Michael beobachtet die Jungen beim Fußballspiel. Kurze Zeit später steht er vor dem Badezimmerspiegel und mustert mit strengem Blick seinen schlaksigen Oberkörper und die raspelkurzen blonden Haare. Lässig spuckt er ins Waschbecken, genau so, wie es die Jungen zuvor auf dem Bolzplatz getan haben. Doch Michael ist anders als die Jungen in seinem Alter: Er ist ein Mädchen.

In ihrem zweiten Spielfilm „Tomboy„, der auf der Berlinale 2011 den „Teddy Jury Award“ gewann, erzählt die französische Regisseurin Céline Sciamma von der zehnjährigen Laure, die den Umzug ihrer Familie zu Beginn der langen Sommerferien nutzt, um sich als Michael neu zu erfinden. Der Titel „Tomboy“ benennt das Phänomen ganz genau: Die Bezeichnung meint Mädchen, die sich entsprechend den gängigen Geschlechterrollen wie Jungen verhalten. Sachte tastet sich Laure als Michael an ihre neue Identität heran. Sie kopiert die Verhaltensweisen der Jungen, spielt Fußball, zerschneidet ihren Badeanzug und stopft die Badehose anschließend mit Knetmasse aus.

Bereits in ihrem Debütfilm setzte sich Sciamma mit der Lebenswelt von Heranwachsenden auseinander. Ging es in „Wasserlilien“ um die schmerzhafte Erfahrung unerfüllter Liebe dreier 15-jähriger Mädchen, erforscht sie in „Tomboy“ die kindliche Suche nach der eigenen Identität – und wirft dabei große Fragen auf. Was macht ein Mädchen aus? Und was genau einen Jungen? Letztlich wird Laure beziehungsweise Michael am unauflöslichen Unterschied zwischen den Geschlechtern scheitern. Notgedrungen weiht Laure ihre kleine Schwester Jeanne (herrlich altklug und gewitzt: Malonn Lévana) ein, die das schwierige Spiel grandios mitspielt. Statt sich bei den anderen Kindern zu verplappern, erfindet die Sechsjährige heldenhafte Geschichten über ihren neu gewonnenen großen Bruder.

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