Berlinale-Blog: Die dritte Dimension (4)
Die Berlinale läuft dem Zeitgeist hinterher, mag mancher Festivalbesucher noch im letzten Jahr gedacht haben. Während andere renommierte europäische Filmfestivals bereits vor zwei Jahren auf den 3D-Zug aufsprangen (Cannes eröffnete 2009 mit dem Disney-Pixar Animationsfilm „Up„), gab sich die Berlinale bisher bedeckt. Und auch in diesem Jahr, immerhin laufen vier 3D-Filme im Programm, ist der Ansatz eher zaghaft. Es scheint, als hätten die Berliner darauf gewartet, dass auch die Arthouse- und Autorenfilmer endlich die Möglichkeiten der dreidimensionalen Darstellung begreifen lernen. Mit „Pina„, „Cave Of Forgotten Dreams„, „The Mortician“ und „Les contes de la nuit“ scheint das nun im Groben und Ganzen erreicht. Die Filmemacher nutzen jedoch entgegen dem kommerziellen Kino die 3D-Technik nicht für monumentale Momente oder kurzweilige dramaturgische Kniffe, der Zuschauer bleibt von Personen und Gegenständen, die ihm fast ins Gesicht springen, verschont. Nein, vielmehr verleiht die neue Technik ihren Geschichten eine im Autorenkino bisher unentdeckte Räumlichkeit im Dienste der Erzählstruktur.
Der französische Animationsregisseur Michel Ocelot, in Deutschland vor allem durch die beiden „Kiriku„-Filme bekannt geworden, bleibt in seinem Film „Les contes de la nuit“ seinem märchenhaften Gesamtwerk treu. Verbunden durch eine Rahmenhandlung, in der sich ein Junge zusammen mit einem Mädchen und einem alten Herren in einem Kino des Nachts Geschichten ausdenken, entwirft er Erzählungen um verzauberte Prinzessinnen, Werwölfe und glückreiche Landstreicher, die vom Totenreich bis ins Mittelalter und nach Afrika reichen. Ocelot animiert seine Erzählungen mit Hilfe des hochbetagten Scherenschnitts und verknüpft sie geschickt mit der modernen 3D-Technik. Eine Handhabung, die der Franzose ausschließlich zur Erzeugung räumlicher Tiefe benutzt. Die schwarzen Silhouetten seiner nur schemenhaft angedeuteten Figuren stehen in Kontrast zu den kräftigen Farben der Umgebung und den in die Tiefe gestaffelten Hintergründen. Sie erzeugen dabei eine derart intensive Leuchtkraft, die so selten im Animationsfilm erreicht worden ist.
Mit einer vergleichbaren Konzentration auf Raum und Tiefe arbeitet auch Wim Wenders. Sein Tanzfilm „Pina“ huldigt dem Körperkult, der Perfektion der Bewegung und dem ausdrucksstarken Tanztheater der im Sommer 2009 verstorbenen Choreografin Pina Bausch. Wenders zeigt Szenen aus den berühmtesten Bausch-Stücken wie das stilbildende „Café Müller“, verbleibt aber nicht bei einem Abfilmen des Theaters. Jede seiner Einstellung scheint geradezu verbissen darauf bedacht, die Tänzer aus ihrem Bühnenraum in eine plastisch erfahrbare Welt zu transportieren. Das funktioniert besonders gut, wenn Wenders den realen Raum, in dem sich die Tänzer bewegen, ironisch überhöht und sie ihrem eigenen Spiel wie in einem Figurenkabinett zuschauen lässt. Berührend sind vor allem die Szenen, in denen die einzelnen Akteure der Bausch-Company ihr Spiel in offenen Räumen wie der Innenstadt von Wuppertal vollführen.
Höhlenmaler
1994 wurden in der „Grotte Chauvet“ in Südfrankreich über 400 Wandbilder mit gemalten und gravierten Tierdarstellungen und Symbolen entdeckt. Die ältesten sind zwischen 32.000 und 35.000 Jahren alt. Die Höhle, die seit ihrer Entdeckung für touristisches Publikum gesperrt ist, ist heute selbst Wissenschaftlern nur begrenzt zugänglich. Es ist also nicht verwunderlich, warum Werner Herzog sich für seinen aktuellen Dokumentarfilm diesen Ort ausgesucht hat. Herzog nutzt den limitierten Raum der Höhle, der ihm ganz substantiell nur wenig Bewegungsfreiheit einräumt, als Ort für einen kulturhistorischen Diskurs, in dem er inhaltlich wie technisch den Bogen zwischen Geschichte und Moderne spannt. Herzog entdeckt die bisher ältesten von Menschen erschaffenen Bildnisse mit den modernsten Mitteln des Kinos, der 3D-Technik, neu. Ein durchaus reizvoller Ansatz, der an vielen Stellen aber nur mäßig gelingt. Der enge Raum und der konzentrierte Einsatz der Dreidimensionalität ermüden den Zuschauer schnell und täuschen letztendlich nicht darüber hinweg, dass die Plastizität, die die Wandmalereien auszustrahlen scheinen, letztendlich nur im Kopf des Betrachters existiert und nicht, wie Herzog vermitteln möchte, durch die Raffinesse des Verfahrens. Eine Dimension weniger hätte vollends gereicht.
Gareth Maxwell Roberts führt mit „The Mortician“ letztlich vor, wie wenig hilfreich technische Errungenschaften sein können. Ausgangspunkt seiner Erzählung ist ein Amerika nach der Finanzkrise. Die Bevölkerung ist verarmt und lebt in Ghettos. Ein Totengräber, dargestellt vom US-amerikanischen Rapper Method Man, der bisher ungerührt von dem Chaos um ihn herum lebte, lernt eines Tages einen kleinen Jungen kennen. Dessen Mutter lag noch vor kurzem auf dem Seziertisch des Totengräbers. Nun wird der Junge vom Muttermörder gesucht. Der bisher reservierte Mann entdeckt sein moralisches Talent – bisher gut versteckt gehalten – und gerät zwischen die Fronten. Grausige Dialoge, ein Hauptdarsteller, der die Kamera scheut und ein zunehmend hemmungsloser Gebrauch dramaturgischer Klischees, der Leichenwart wuchs natürlich ohne Mutter auf und besitzt darum Bindungsschwierigkeiten, lassen Roberts Machwerk nur wenige Minuten nach Beginn sprichwörtlich auseinanderfallen. Am Ende ist sein ästhetisch durchaus ansprechender Film profillos und gelungener Beweis dafür, dass ein hohes Maß an technischem Aufwand keiner sorgfältigen Erzählstruktur entbehren darf. Zumindest nicht im Filmkunstkino.
Martin Daßinnies