Herr der Entscheidung: Ein „Shoot & Run“- Bericht


Zieh, Cowboy!

Ein guter Filmwettbewerb muss in seinen sozialen Netzwerken den Spagat zwischen Sympathie und Anspruch, zwischen Kritiker- und Massengeschmack gekonnt umsetzen. Ein guter Jurior hat stets schlechte Laune und teilt sie gerne mit seinen Mitmenschen. Nun ja, nicht ganz … aber um Unabhängigkeit sollte er sich schon bemühen. Vergangenen Sonntag bot die Kurzfilmwettbewerbsreihe „Shoot & Run“ wieder interessierten Filmschaffenden die Möglichkeit, ihren Beitrag einzusenden, insofern er innerhalb von 48 Stunden im Bezirk Mitte abgedreht wurde und die Kriterien eines Dokumentarfilmes erfüllte. Ein Flanellhemd und eine Röhrenjeans wären also die optimale Punktevergeberkluft gewesen. Damit konnte ich leider nicht dienen, aber man schien sich auch so auf meine Ankunft zu freuen.

Als Genre versteht sich der Dokumentarfilm als Garant für Realität und Wahrheit. Der Begriff Dokumentation bedeutet in diesem Fall nichts anderes, als die Absicht das Wirklichkeitsempfinden des Zuschauers nachhaltig zu prägen. Um diese Prägung vorzunehmen, gibt es verschiedene Möglichkeiten zum Ziel zu gelangen. Der Filmwissenschaftler Bill Nichols klassifizierte sechs verschiedene Modi: reflexiv, performativ, beobachtend, poetisch, erklärend und mitwirkend. Die dokumentarischen Bilder, die man allabendlich aus der Tagesschau kennt, sind zum Beispiel beobachtend. Eine Michael Moore-Doku bewegt sich irgendwo zwischen den Attributen performativ, erklärend und reflexiv, möchte sie wohl auch gerne sein. Der Enthüllungsbericht über das Misswirtschaften einer Firma etwa ist mitwirkend, die Filme von James Benning („El Valley Centro“) dürfen in ihrer Nüchternheit dennoch als poetisch gelten.

Im Roderich wurden am vergangenen Sonntag den Jurioren und dem Publikum drei Kurzdokumentationen offeriert und bedenkt man die recht harten Kriterien, die die Damen und Herren von „Shoot & Run“ den Filmschaffenden auferlegen – nur 48 Stunden! – so ließen sich die Ergebnisse durchaus sehen. Was musste man als Jurior beachten? Zum einen natürlich Unabhängigkeit. Kein Problem, ich kannte keinen der Regisseure noch einen der Schauspieler. Dann war noch die Punktvergabe in den Kategorien: Genre, Kreativität, technische Umsetzung und Bezirkstreue. Kein Problem. Zum Schluss mussten die Jurioren einen Gewinner ermitteln. Da es nur drei Beiträge waren und es in der Qualität dann doch einige Abstufungen gab, artete das nicht in Arbeit aus. Letztlich mussten die Jurioren auf die Bühne treten und dem Publikum Kürzest-Vitas anbieten, damit zu mindestens der Eindruck von Seriosität entstand. Und – natürlich waren wir durch und durch seriös.

Auf dem Weg zum Wettbewerb erhaschte ich noch gerade so das letzte Tageslicht. Es ist mit Sicherheit nicht das erste Mal gewesen, dass ich mich zu einem Festival begab, nur die Aufgaben einer Jury waren mir bis jetzt fremd. Natürlich im Zeitalter digitaler Wühltischkultur wird der Filmliebhaber per se zu dem was Alvin Toffler einst einen Prosumenten nannte: Er ist nicht nur Konsument, sondern immer auch Produzent und sei es von „Stimmung“ oder „Atmosphäre“. Das Kino wird so zum einem Ort des Zu- und Abgreifens. Das hat natürlich auch mit dem Zustand der Röhre zu tun, die heute meistens keine mehr ist und so flach wie sich die aquariumsgroße Glotze Version 2.0 präsentiert, so flach ist im Schnitt das Gezeigte. Weil unser Begriff von Wirklichkeit durch und durch von Fernsehbildern geprägt ist, weil wir es schätzen „mittendrin statt nur dabei“ zu sein, ist es ein wohltuender Befreiungsschlag, wenn Filmschaffende mal einfach draufhalten und den Zufall hoffen. Jeder hat doch diese Settings satt, in denen „authentische“ Momente planvoll herbeigeführt und aus mindestens vier Perspektiven beobachtet werden. Diesen totalen Raum, der Verwackler und Unschärfen bloß als ästhetische Mittel gestattet und die Gezeigten dadurch voyeuristisch überwacht.

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