Festivalbericht 27. Interfilm Kurzfilmfestival
Sich treiben lassen
Schweizgenössisch
Unter dem Titel „Heidi revisited“ formierten sich vier Themenkomplexe mit jeweils eigenem Fokus. Heimliches Herzstück des Programms war dabei der Bereich „Albtraum Alpenraum“, eine Kooperation mit den Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur, in dem vor allem Migration, der Balkankrieg und Gewaltbereitschaft von Jugendlichen eine Rolle spielt – ein Albtraum, der nicht nur im Alpenraum sein Unwesen treibt. Die deutsch-schweizerische Animation „Chrigi“ von Anja Kofmel etwa, in der ein Mädchen von ihrem Cousin erzählt, der zuerst die ganze Welt bereist und dann in Kroatien als Söldner umkommt, findet einen ganz eigenen Zugang zum Thema Balkankrieg: In minimalistischem Comicstil sieht der Zuschauer zu den kindlich-verklärenden Off-Kommentaren der Erzählerin den coolen Chrigi, der stets eine Zigarette im Mundwinkel hängen hat und der am Ende an einer unbekannten Stelle im Wald begraben wird. Zuweilen schrammen die Geschichten allerdings knapp am holzschnittartigen Lehrstück vorbei, wie etwa bei „Ich träume nicht auf deutsch“ von Ivana Lalovic oder dem Kurzfilm-Oscarpreisträger von 2008 „Auf der Strecke„.
Wo sich im ersten Beispiel die Geschichte der 17-Jährigen Lejla, die als Hotelangestellte in Sarajevo von einem besseren Leben in Deutschland träumt, in traurig-kitschigen Nahaufnahmen verliert, schafft es Regisseur Reto Caffi in „Auf der Strecke“ mit Hilfe seiner fähigen TV-Darsteller Roeland Wisnekker und Julie Bräuning eine spannungsgeladene Geschichte zu erzählen. Der Zürcher Kaufhausdetektiv Rolf ist in die Buchverkäuferin Sarah verliebt und beobachtet sie auf Schritt und Tritt. Auf dem Heimweg bekommt er einen Streit zwischen ihr und einem unbekannten Mann mit, den er fälschlicherweise als ihren Freund identifiziert. Sarah steigt wütend aus der S-Bahn und Rolf wird Zeuge, wie der Unbekannte direkt danach von Schlägern tot geprügelt wird. Doch anstatt zu helfen, macht er sich davon. Ein folgenschwerer Fehler, denn Rolf plagen nicht nur Gewissensbisse – er kommt auch seiner Angebeteten näher und erfährt, dass das Opfer ihr Bruder war. Die Geschichte ist ruhig, aber nie schleppend inszeniert und lässt den Zuschauer mit der ungelösten Situation zurück. Zum Glück möchte man meinen – denn ansonsten würde auch diese Geschichte zum Werbefilm für Zivilcourage geraten.
Dass Schweizer Filmemacher aber nicht nur mit den politischen und gesellschaftlichen Problemen in ihrem eigenen Land beschäftigt sind, zeigt der Themenkomplex „I ha di gärn“. Dort standen Beziehungs- und Alltagskonflikte im Vordergrund. Und auch im vierten Themenkomplex, „Satiricorti“ ist es der Sohn eines Marokkaners, der seinem 80-jährigen Vater den Wunsch erfüllen möchte, einmal in der Schweiz Ski zu fahren. Von Marrakesch in die Schweiz ist es ein weiter Weg und so holt der Sohn die Alpen einfach nach Nordafrika („Il neige a Marrakech“ von Hicham Alhayat).
Die Filme in „Heidi revisited“ gehen selten gut aus und bieten erst recht keine Lösungen. Und das ist richtig, denn so ermöglichen sie einerseits einen humorvollen, selbstreflexiven Blick auf die Eidgenossen. Andererseits beschäftigen die Filme sich mit hochpolitischen Themen wie dem Balkankonflikt und der Migrationsproblematik in der Schweiz – ohne an den oftmals allzu „gepützelten“ Grenzen des Landes stehen zu bleiben.