sehsüchte-Festivalbericht 2012

Rotkäppchen in Potsdam


Ausschnitt: sehüchte-Trailer 2012

Ausschnitt: sehüchte-Trailer 2012

Es ist Nacht. Eine junge Frau in rotem Kleid irrt verängstigt durch eine dunkle, einsame Gasse. Bedrohliche Schatten von Mördern und Monstern zeichnen sich auf den Hauswänden ab und verfolgen sie. Doch da, in letzter Minute taucht ihr tapferer Retter auf, ein Superheld im Spandex-Anzug, besser bekannt als das Maskottchen Konni vom diesjährigen Sehsüchte Festival, das in diesem 30-Sekunden-Trailer nun schützend den Umhang um die Frau in Not ausbreitet.

Die erste Ankunft in Potsdam-Griebnitzsee ist da vergleichsweise harmlos, denn wenn man aus der S-Bahn aussteigt, steht man erst mal im Dorf. Hier ein paar niedliche Häuschen, dort ein Rentner mit Hund und wie selbstverständlich erhebt sich darüber ein paar Meter weiter plötzlich die surreale Serienkulisse von Gute Zeiten – Schlechte Zeiten, die gerade von einer Reisegruppe überaus interessierter Soap Opera-Fans inspiziert wird. Nachdem man noch ein paar schrottreife Stuntautos passiert hat, die friedlich im Sonnenlicht auf einer Wiese vor sich hingammeln, erreicht man schließlich den monströs geschwungenen Glasbau der HFF, der sich ein sechstägiges Festivalprogramm mit 130 internationalen Filmbeiträgen auf die Fahne geschrieben hat. Während die HFF in den kommenden Tagen als Place-To-Be für Lounge und Parties seine Tore öffnen wird, muss man zum Filmeschauen allerdings noch weiter in Potsdamer Zentrum vordringen, denn als Spielstätte fungiert wie jedes Jahr das dortige Thalia-Kino.

Als am vergangenen Dienstag dort die offizielle Eröffnung des Festivals stattfindet, ist die Stimmung bei den Studenten angespannt, bei den zahlreichen Besuchern erwartungsvoll, aber alle freuen sich gleichermaßen über den Gratis-Rotkäppchen-Sektstand im Foyer. Den Anfang machen die drei Festivalleiter Lydia Bienias, Tobias Krell und Kim Richter, die etwas wackelig aber sympathisch-nervös Gäste wie Brandenburgs Wirtschaftsministerin Prof. Dr.-Ing. Dr. Sabine Kunst und die Medienboard Geschäftsführerin Kirsten Niehuus ankündigen, sowie die Zuschauer auf weiteren Gratis-Whiskey unter den Sitzen hinweisen. Bei der staubtrockenen Rede vom HFF-Präsidenten Prof. Dr. Dieter Wiedemann, der sich über den „total coolen und lockeren Auftakt“ freut, ist man dann zum Glück schon etwas angesoffen.

Sehen lassen kann sich in jedem Fall der anschließend gezeigte Eröffnungsfilmblock: Während „Nun sehen Sie Folgendes“ (Erik Schmitt und Stephan Müller) äußert amüsant und ironisch überspitzt die gängigen Strukturen eines Blockbusters erläutert, trifft man in „Opowiesci Z Chlodni“ („Frozen Stories„, Grzegorz Jaroszuk) auf polnische suizidgefährdete Supermarktangestellte und kann schließlich in einem Musikvideo zu dem Song „Legacy“ von Alcoholic Faith Mission (Bryn Chainey) einem Mädchen dabei zusehen, wie diese mit allen gängigen Bestattungsritualen dieser Welt ihre tote Maus ungefähr 30 Mal beerdigt.

Nach diesem fulminanten Opening wartet auch schon ein extra organisierter Shuttlebus, der die Gäste vorm Thalia-Kino einsammelt und vor den Türen der HFF brav wieder auskippt. Viel Laufen wird man in den kommenden Tagen übrigens auch nicht müssen, denn dank diesem überaus aufmerksamen Service wird jeder sehsüchtige Festivalgänger fürstlich von einem Programmpunkt zum nächsten gekarrt. In der HFF schiebt sich zunächst schon wieder so ein aufdringlicher Rotkäppchen-Sektstand ins Blickfeld (Die sind wirklich überall!) und bei einem leckeren Büffet mit Quiches und Pasta sowie einer gut bestückten Bar mit weiteren Gratis-Drinks dämmert es einem spätestens, dass dieses Festival alles andere als figur- und leberfreundlich ist.

Aber man ist ja schließlich hier, um Filme zu schauen. Als unbedingtes Highlight stellte sich der Beitrag „Kriegerin“ („Combat Girl„) von David Wnendt heraus, der als einer der wenigen Langspielfilme die rechtsradikale Marisa porträtiert, deren ideologische Weltanschauung von Minute zu Minute poröser wird. Authentisch und charaktertief mit Alina Levshin in der Hauptrolle besetzt, zeigt „Kriegerin“ eine extrem polarisierende Figur, die sich in einer Szene noch rührend um ihren im Sterben liegenden Großvater kümmert, in der nächsten Szene jedoch mit unsagbarem Sadismus und abgründigem Hass in den Augen Ausländer in einem Zugabteil verprügelt. Marisa trifft im Laufe des Films auf die bürgerliche Svenja, die – ebenfalls herausragend gespielt von Jella Haase – unbedingt Mitglied in der rechtsradikalen Clique werden will.

Festivalleitung Lydia Bienias, Kim Richter und Tobias Krell mit Moderator Klaas Heufer-Umlauf, Foto: sehsüchte

Festivalleitung Lydia Bienias, Kim Richter und Tobias Krell mit Moderator Klaas Heufer-Umlauf, Foto: sehsüchte

Vielleicht ist dies der einzige Schwachpunkt des Films, denn wenn man bedenkt, dass heutzutage jede deutsche Schule im Zwei-Jahres-Rhythmus ihr aufklärendes Anti-NS-Programm im Geschichtsunterricht abspult, ist eine solche Infizierung von Teenagern mit Nazi-Propaganda vermutlich, oder hoffentlich, nicht mehr ohne Weiteres möglich. Wer sich „Kriegerin“ angeschaut hat, musste leider zeitgleich auf „Glück“ verzichten, der im Rahmen der Doris Dörrie-Retrospektive zusammen mit „Bin ich schön?“ und „Erleuchtung garantiert“ gezeigt wurde. Während in „Glück“ die Prostituierte Irina und ihr Punker-Freund Kalle damit beschäftigt sind, die Leiche eines Freiers zu beseitigen, können die Protagonisten aus „Nekromantik“ von Jörg Buttgereit, dem ebenfalls eine Retrospektive gewidmet wurde, wiederum nicht genug von Leichen bekommen. Die Liebe zu toten Körpern kulminiert bei dem Fetisch-Paar Robert und Betty in einer Dreiecksbeziehung mit einer Leiche, aus der zwei Beteiligte gegen Ende des Films einfach abhauen, darunter der leblose Körper, dem man nun wirklich keine Schuld für das Beziehungsaus geben kann.

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