Rückblick auf die 50. Viennale
Haltung annehmen, bitte!
Die Knallkörper zerplatzen wie Patronenhülsen. Als „O Som Ao Redor“ (Kleber Mendonça Filho, BR 2012) zu Ende ist, möchte man gern noch mindestens eine halbe Stunde im Sessel sitzen bleiben, so schwer, so großartig ist das eben Gesehene. Doch ein Innehalten ist nicht möglich. Vor dem Kino steht schon wieder die nächste Cineastenwelle, die sofort lossprintet, als der letzte Zuschauer den Saal verlassen hat. Das ist vielleicht das größte Manko der Viennale: Ein Überangebot an Filmen, die sich regelrecht auf den Zehenspitzen herumstehen, um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlen, das wiederum gar keine Zeit hatte, einen Film richtig zu verdauen, der nächste folgte schließlich gleich.
Das ist natürlich ein Luxusproblem. Ein so alteingesessenes Festival wie die Viennale darf schon mal auf die Pauke hauen, wenn es sein 50-jähriges Bestehen feiert und mit den neuen Filmen von Solondz, Vinterberg, Kitoshi und Miike aufwarten kann. Oder mit einem Michael Caine-Tribute, einer Fritz Lang-Retrospektive, einem Horrorfilmspecial mit dem Titel „They wanted to see something different“ und einer Werkschau des portugiesischen Filmemachers Manuel Mozos. Die Viennale bot mit 140 neuen und insgesamt 300 Langfilmen sowie etlichen Kurzfilmen 2012 eine kuratierte Werkschau, die es in sich hatte.
Und so folgt dem Drama „O Som Ao Rendor“ (hier unsere ausführliche Filmkritik) auch prompt ein bonbonfarbener Musicalreigen: Takashi Miikes „Ai to Makoto“ (J, 2012). Thematisch vor allem durch unzählige Faustkampfduelle zusammengehalten (die rein quantitativ jeden Bud Spencer und Terrence Hill Streifen in den Schatten stellen) erzählt Miikes ungewöhnlicher Film „Romeo und Julia“ mal anders. In seiner Parodie auf Kampfkunstfilme, Musicals und Romantic Comedys verbringt Romeo alias Makoto einen Großteil des Films damit, vor Julia alias Ai zu flüchten. Trotz etlicher Redundanzen und Überlänge springt einem „Ai to Makoto“ direkt ans Herz, was vor allem an den herrlich überzeichneten Charakteren liegt. Besonders einprägsam: Yukis Gesangseinlage im Schulklo – „Dreams bloom“ singt sie, eine Glühbirne haltend und rekonstruiert anhand diverser Jungsnamen eine pubertäre, sexuelle Abenteuerlust, während sie mit dem einen Fuß in der Pissrinne steht.
Auch das restliche Viennale-Programm ist nicht selten Experiment oder Parodie und oft hat man das Gefühl, einen Haltungs-Film zu schauen, bei dem der Regisseur noch deutlicher als gewohnt ein Statement formuliert. Dabei entstehen dann so visuell und atmosphärisch beeindruckende Filme wie Peter Stricklands „Berberian Sound Studio„ (GB, 2012), der sich in jeder Kameraeinstellung wie ein Kultfilm geriert oder Indie-Südstaaten-Epen wie „The Dynamiter“ (US, 2010). Vielleicht drastischstes Beispiel einer cineastischen Haltung: Todd Solondz „Dark Horse“ (US 2011), den ein bemäntelter Kritiker in der Kinoschlange mit Schaum vor dem Mund als verabscheuenswertes Beispiel für „narzisstischen Zynismus“ gewertet hatte.
Und das nicht ohne Grund. Abe (Jordan Gelber) ist übergewichtig, faul und ein unausstehliches Arschloch, das noch bei seinen Eltern lebt und bei seinem Vater (grandios: Christopher Walken) in der Firma arbeitet. Am Himmel glimmt ein kotzefarbener Hoffnungsschimmer, als er auf einer Bar Mitzwa Miranda (Selma Blair) kennenlernt und sie trotz ihrer Abneigung zur Heirat überredet. „Ich habe eingesehen, dass ich alle literarische Ambitionen und meine Illusionen weiblicher Unabhängigkeit an den Nagel hängen und Mutter und Ehefrau werden muss“, sagt sie einmal resigniert. Man lacht laut und weint innerlich ein bisschen – eigentlich ein guter Effekt. Doch Solondz‘ Satire auf die amerikanische Mittelklasse kann sich nicht wirklich entscheiden, ob sie nun ironisch oder einfach nur bitterböse sein will und so bleibt einzig der Ekel zurück, als Abe auf seinen eigenen menschlichen Abgrund zusteuert.