Das Pornfilmfestival 2013 im Rückblick

Mehr Substanz, weniger Sperma


…bis zum Zerbersten mit Sinnlichkeit gefüllt.

Dass Sexualität letztlich viele Parallelen zur industrialisierten Fleischverarbeitung aufweist, zeigt die dritte Dame, eine Lehrerin, die sich, ganz auf den „Riss“ in ihrer Seele fixiert, ein neues, befreites und ebenso zügelloses Leben wünscht. Der Arzt, der später die Klinge an ihren Schamlippen ansetzen wird, um sie auf das gewünschte Maß an Schönheit zurecht zu stutzen, schafft nicht nur das Angebot in diesem utilitaristischen Kreislauf namens Schönheitschirurgie, er ist auch für dessen Nachfrage verantwortlich. Attraktivität hat in diesem Kosmos keinen eigenständigen Wert, sie ist ein Allgemeinplatz, in dem sich das Individuum dankt technischer Annäherung irgendwann nicht mehr ganz so allein fühlen muss. Und so schillern die Burlesque -Tänzerinnen und Tänzer in Beth B´s Dokumentation „Exposed“ (USA 2013) in ihrer ganz eigenen Definition von Sexualität wie bunte Goldfische in Brackwasser. Akzeptanz, Individualismus, Unberechenbarkeit, Zweck, Avantgarde und eigenständige Persönlichkeiten fließen hier so schön geschmeidig ineinander, dass am Ende nicht ganz klar ist, was sich denn nun hinter dem Wort Burlesque verbirgt. Im besten Fall ist das ein fassbares Gefäß, das bis zum Zerbersten mit Sinnlichkeit gefüllt ist.

Weiterlesen: Produzentin Sandra Schulberg über „Exposed“

Kaum fassbare Verbindungen stellte auch die kleine Pornfilmfestival Pink-Movie-Retro zum Schaffen Sato Hisayasus her. Wer sich mit japanischem Kino, selbst dem Mainstreamkino, auseinandersetzt, der weiß, dass dieses Kino andere Querverbindungen setzt. Zumindest, wenn man vorrangig mit dem europäischen oder US-amerikanischen vertraut ist. Während die Darstellung des nackten Genitals im Film ein absolutes Tabu darstellt und in Japan unter Strafe steht, sind die Erzählebenen bunt und wirken nicht selten wie eine Anordnung experimenteller Enttabuisierung. Gender-Thematiken werden mit Inzest und Gewaltexzessen kombiniert („Rafureshia„, 1995), Adoleszenz mit Suizid und Voyeurismus arrangiert („Birthday„, 1993) und Prostitution mit Vergewaltigungsfantasien und Erlösungsvorstellungen („Hidden Camera Report„, 1991) kombiniert. Dass diese krude Mixtur anspruchsvoll wie unterhaltsam ist, ist dann umso erstaunlicher, wenn man weiß, in welch engem Korsett sich die Pinku eiga-Regisseure bewegen. Es gilt nämlich, seine Geschichte in 60 Minuten zu erzählen, die wiederum sechs Sexszenen enthalten müssen. Anhand der Themenvielfalt fast unvorstellbar. Und doch, man reibt sich die Augen und ist verwundert. Von den Japanern. Vom Pornfilmfestival. Vom einsamen Glory-Hole in der hintersten Toilettenkabine des Moviemento.

Carolin Weidner/Martin Daßinnies

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