Sandra Schulberg und der US-Independent-Film
Versuche, die Welt festzuhalten
Als sie 2004 in Berlin war, um Marshall-Plan-Filme (Filme zur Reeducation der Deutschen) zusammen mit Berlinale-Direktor Dieter Kosslick und Filmwissenschaftler Rainer Rother im Zeughauskino zu präsentieren, zeigten sie ihr Kopien von „Nuremberg„, ein Entnazifizierungsfilm über die Nürnberg-Prozesse, den ihr Vater nach dem Zweiten Weltkrieg drehte. Sie hatte den Film niemals vorher gesehen. Ihr wurde bewusst, dass eine große Gefahr besteht, dass Filme einfach verloren gehen. Sie fing an, den Film ihres Vaters zu restaurieren. Nach der Veröffentlichung von „Nuremberg“ stellte Schulberg ihre eigene Arbeit als Produzentin immer mehr in den Hintergrund und gründete IndieCollect, eine Initiative, die sich für die Archivierung von Independentfilmen einsetzt. „Ich mache mir große Sorgen. Es gibt so gut wie kein Archiv, das amerikanische Indie-Filme sichert. In den 70ern hatten wir große Mühe, die Filme zu finanzieren und distribuieren. Nun müssen wir unsere Filme retten. Das ist eine regelrechte Krise.“
Vor allem der Wechsel von 35-mm-Film zu digitalen Kopien in den amerikanischen Kinos im Januar dieses Jahres beherbergt große Risken. Kopien gehen verloren. Es ist teuer, sie zu lagern und es stellt sich die Frage, wer dafür verantwortlich ist. „Es ist eine Lawine. Und die Opfer werden die amerikanische Filmkultur und -geschichte sein. Egal ob es gute oder schlechte Filme sind, wer auch immer das entscheidet. Sie sind eine Reflektion der Geschichte.“ Für Sandra Schulberg ist es eine Herzensangelegenheit. Sie kämpft gegen die Zeit. „Ich kann versprechen, dass wir heute Filme verloren haben. Heute, während wir hier sitzen!“ Schulbergs Weg, der sie wieder nach Berlin geführt hat, am nächsten Tag nach St. Petersburg und dann wieder zurück nach New York, ist noch lange nicht beendet. Sie ist auf einem Kreuzzug gegen das Vergessen. Die Marshall-Plan-Filme, „Nuremberg“ und IndieCollect: Es sind Versuche, die Welt festzuhalten, um sie für spätere Generationen zu erhalten. Sie hat in ihrer Zeit als Filmemacherin Karrieren enden und aufstrebende Filmkarrieren im Sand verlaufen sehen. Gute und schlechte Filme gesehen. Doch sie wertet nicht, denn sie weiß – und hier wird vielleicht ihr anthropologischer Hintergrund wieder sichtbar – manche Dinge kann man erst im Ganzen, im Kontinuum sehen. Und deshalb ist es wichtig, diese Zeitdokumente zu behalten.
Laura Varriale