Interview mit Regisseurin Deniz Gamze Ergüven zu „Mustang“

Ergüven: „Die politische Rhetorik hat sich seit 2013 deutlich radikalisiert“


Mustang_PlakatmotivNach der Auswahl in die Quinzaine des Réalisateurs von Cannes räumt Deniz Gamze Ergüvens „Mustang“ weltweit bisher 24 Preise bei Filmfestivals ab. Die Krönung könnte am 28. Februar erfolgen, wenn das Drama als bester fremdsprachiger Film des Jahres für den Oscar nominiert ist. „Mustang“ klagt anhand der Geschichte von fünf Schwestern eine ins hysterische über-sexualisierende Gesellschaft an, die Mädchen und Frauen jeden Raum zur Entfaltung nimmt.
Im Interview geht die 1978 in Ankara geborene Regisseurin, die seit ihrer Kindheit zwischen der Türkei, Frankreich und den USA hin und her pendelt auf die Besonderheiten des beeindruckenden Werkes ein, bezieht Stellung zur politischen Lage der Türkei und erklärt, warum der Film nicht in Istanbul spielen konnte…

Frau Ergüven, „Mustang“ spielt scheinbar am Ende der Welt in der Mitte von Nirgendwo. Wie haben Sie diesen Ort gefunden?
Deniz Gamze Ergüven:
Wir suchten tatsächlich einen Ort, der visuell aussah, wie das Ende der Welt! (lacht) Es sollte ein Ort sein, der nicht sofort zu identifizieren und mindestens 1.000 Kilometer von Istanbul entfernt ist. Dazu kamen viele ästhetische Anforderungen, die mehr als alles andere die Wahl beeinflussten. Das begann beim Haus, von dem man bestimmte Dinge aus sehen können musste, es brauchte einen Blick übers Meer genauso wie auf die Straße. Das erforderte ein ziemlich intensives Location-Scouting am Schwarzen Meer. Wir haben wirklich jedes einzelne dieser Dörfer besucht, bis wir dieses eine fanden, İnebolu war noch besser als das, was ich mir ausgemalt hatte. Die Natur dort wirkte pur und das Meer gefährlich. Die Architektur war sehr besonders. Aus all dem erwuchs der perfekte Ort. Aber es sollte zu aller vorderst aussehen, wie das Ende der Welt.

Weiterlesen: Unsere ausführliche Kritik „Ungestümes Aufbegehren“ zu „Mustang„…

Sie erwähnen die 1.000 Kilometer Distanz, die zwischen dem Ort und Istanbul liegen mussten. Wie wichtig war es Ihnen, keinen Istanbul-Film zu drehen?
Durch diese Distanz entsteht eine Art horizontaler Mauer, über die die Mädchen springen müssen. Die Türkei ist alles andere als ein Land der Städte. Die beeinflussen das Bild der Türkei aber sehr. Natürlich gibt es sehr viele viel modernere Orte. In diesen Städten bist du mit dem Rest der Welt auch viel mehr verbunden. In Istanbul und Ankara trifft man auf sehr moderne Menschen, aber du hast genauso sehr traditionell lebende Menschen. Die Landregionen der Türkei sind dünn bevölkert, die Dörfer kaum bewohnt. In der Szene in der Hochzeitsnacht, in der Ece zum Krankenhaus muss, um zu beweisen, dass sie Jungfrau war, beruht auf einer Erzählung eines Arztes aus Ankara. Das passiert dort 40- bis 50-mal während der Hochzeitssaison – ist also nicht nur Realität der abgelegenen Dörfer.

Ihr Titel „Mustang“ beschreibt sehr treffend die Mädchen in Ihrem Film. Wie werden die für Sie zu Mustangs?
Ein Mustang meint mythologisch jemanden ohne Herrn und Gebieter. Das passt sehr gut. Ich suchte nach etwas, dass die Mädchen und ihr Temperament beschreibt und ihre Stärke. Visuell haben mich die Haare der Mädchen an die von wilden Tieren erinnert. Schon im ersten Satz meines Drehbuch steht: Lale hat etwas von einem wilden Tier. Nur welches? Als sie durch die Straßen des Dorfs tobten und rannten, fühlte sich das nach einer Herde Pferde an, so kam ich zu Mustang. Danach empfand ich das als offensichtlich. Wenn ich mich umsah und ein Mädchen sah, das ich als Mustang bezeichnete, waren das Mädchen mit einem bestimmten Temperament.

An der Entwicklung von Lale, der Jüngsten, ist sehr interessant, dass sie sich emanzipiert, indem sie ihre Schwestern und deren Schicksale beobachtet, sie lernt nicht aus Büchern oder in der Schule. Liegt dem die Hoffnung auf Befreiung aus sich selbst heraus zugrunde?
Ich habe die Schwestern immer als eine Art fünfköpfiges Wesen gesehen. Im Lauf der Geschichte verliert dieses Wesen Körperteile, auf sehr schmerzhafte Weise, lernt aber Dinge zu adaptieren und zurückzuschlagen. Am Ende des Weges weiß man, was auf dem Weg dorthin alles verloren ging. Das ist zweischneidig. Als sie es zum ersten Mal versucht, scheitert sie noch an dieser 1.000 Kilometer langen Straße. Als Nesthäkchen vereint Lale in sich die Erfahrungen all derer, die sie am Weg hat Scheitern sehen. Sie ist die Frucht eines sehr speziellen Baumes. Sie ist immer Teil des Ganzen und nie ein isoliertes Element.

Eine Szene, die nachwirkt, ist sicherlich die, in der die Mädchen ihre Kleidung gegen diese sackartigen Teile tauschen sollen und aufbegehren…
Ja, diese formlosen, kackfarbenen Kleider. Sie schneidern an denen und machen etwas daraus. Das war so nicht im Drehbuch, das entstand, während wir die Szene entwickelten. Da habe ich es den Mädchen vorgeschlagen.

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