Interview mit Shin Dong-seok, Regisseur von „Last Child“
Shin Dong-seok: Emotionale Regungen werden als Schwäche ausgelegt
Im Forum der Berlinale feierte „Last Child“ seine Weltpremiere. Darin geht es um Verlust und Schuld. Nachdem das einzige Kind eines älteren Ehepaares stirbt, muss das Paar versuchen, ein neues Lebensmodell zu finden. Es hat die Gelegenheit, mit einem ganz Fremden erneut zu einer Familie zusammenzuwachsen. Berliner Filmfestivals traf sich mit Regisseur Shin Dong-seok, hat ihn zu seinem Spielfilmdebüt befragt und sich mit ihm über Trauer, die koreanische Gesellschaft und das darin von Männern dominierte Bild unterhalten.
Eines der Hauptthemen in Ihrem Film ist die Familie. Was bedeutet sie in der koreanischen Gesellschaft und wie hat sich ihr Wert in den letzten Jahrzehnten verändert?
Shin Dong-seok: Das ist das erste Mal, dass mir diese Frage gestellt wird. So habe ich den Film ehrlich gesagt gar nicht gesehen. Dass er in der Familie spielt, hat sich wie von selbst gegeben. Aber mit Sicherheit ist es so, dass Familie immer einen sehr hohen Stellenwert in der koreanischen Gesellschaft hatte und auch noch hat. Es hat sich allerdings, mit der Konzentration auf wirtschaftlichen Aufschwung und der maßlosen Steigerung des Leistungsdruckes, in den letzten Jahrzehnten eine Verschiebung in Richtung einer viel individuelleren Gesellschaft herausgebildet. Das Vorankommen des Einzelnen zu Lasten eines solidarischen familiären Zusammenhaltes hat Überhang genommen. Dies zeigt sich auch in der Existenz von immer kleineren Familienstrukturen und einer wachsenden Vereinsamung älterer Generationen.
Ein weiteres wichtiges Thema von „Last Child“ ist Trauer. Es wirkt so, als gäbe es einen einzigen öffentlichen Moment, bei dem es erlaubt sei, seine Trauer nach außen zu tragen, aber dass es danach ins Private verbannt sei. Sie zeigen verschiedene Arten, mit Trauer umzugehen. Gibt es eine sozial akzeptierte Weise, von der man erwartet, dass sich alle daran halten?
Shin: Genau so ist es. Die Familienangehörigen richten eine Trauerfeier aus, an der engere Bezugspersonen, aber auch das weitere Umfeld wie Schul- und Berufskollegen teilnehmen. Danach erwartet man, dass die Angehörigen die anderen damit in Ruhe lassen. Ein kleines Erinnerungsfoto im eigenen Haus steht diskret auf der Anrichte. Gefühle nach außen zu tragen, schickt sich in Korea nicht. Emotionale Regungen werden als Schwäche ausgelegt und sind nur der wirtschaftlichen, übergeordneten Entwicklung des Landes Richtung Industriemacht hinderlich. Dies will ich anprangern. Ich möchte zeigen, dass es in Korea keine Unterstützung für Trauernde gibt. Man könnte sogar sagen, kein Verständnis. Dies geht von der politischen Führung aus und wird weitgehend von der Gesellschaft nachvollzogen. Es scheint mir, dass sich ein ungesundes Wertesystem verfestigt hat.
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Sie sprechen im Film auch eindeutig von Verantwortung und Schuld, auf einer persönlichen und einer kollektiven Ebene. Die Eltern der anderen Mitschüler oder auch die Schulleitung wollen erst gar nicht erfahren, was genau zum Tod des einen Jungen führte. Die einfachste und für sie positiv konnotierte Erklärung reicht ihnen völlig aus, sie bevorzugen sie.
Shin: Das ist eine Denkart, die ich selbst erlebe. Es geht darum, möglichst keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Dies wird dem Einzelnen überlassen. Im Film wollte ich zeigen, wie jeder anders mit Schuld und seinen Schuldgefühlen umgeht. Es geht mir auch darum, die Menschen für das Thema zu sensibilisieren. Zu zeigen, dass es erlaubt ist, auch Trauer zu zeigen, solidarisch zu sein und schließlich auch zu vergeben. Ich glaube, die Koreaner sind einfach überfordert mit dem Wie. Unserer Geschichte wegen steht es an vorderster Stelle, dass Gefühle beherrscht werden sollen. Daher ist es schwierig, sich gegen diesen Wert zu behaupten, der ja schließlich dazu beigetragen habe, das Land wirtschaftlich dermaßen erfolgreich zu machen.