Solothurner Filmtage 2021: Die Home Edition


In diesen Kontext passt das riesige Werk WOMEN MAKE FILM des britisch-irischen Filmemachers und Filmkritikers Mark Cousins. In 40 Kapiteln und 14 Stunden hat er das Werk von 183 weiblichen Filmemacherinnen vorgestellt. Er liefert ein eindrückliches Handbuch, das es erlaubt, eine bisher vernachläßigten Teil der Filmgeschichte neu zu entdecken. Kurz charakterisiert er die Werke der Regisseurinnen. Auch wenn man mit Erleichterung sagen kann, dass man doch einige der Namen kennt, die Mehrheit von ihnen dann eben doch nicht.

Bei den Dokumentarfilmen stach noch LE QUATTRO VOLTE des italienischen Regisseurs Michelangelo Frammartino, der ausschließlich in Italien, genauer in einem kleinen Dorf Kalabriens, gedreht worden ist. Der Film stammt schon von 2010 und wurde im Programm des Festivals als Hommage an den Schweizer Produzenten Andreas Pfäffli gezeigt. Frammartino fängt mit der Kamera das einfache Leben ein. Er gibt den Menschen in diesem hügeligen Dorf eine Würde und Bedeutung, die sie sich vielleicht selbst nicht zugesprochen hätten. Jedes Leben ist wertvoll und einzigartig, das zeigt der Film. Von sicherer Distanz schaut der Zuschauer auf die ruhigen Handgriffe der Bewohner von Caulonia, es wird nicht in die Kamera gesprochen, der Autor hält sich zurück. Kontemplativ, poetisch und versöhnlich wirkt der Film auf den Zuschauer.

Die Würdigung von Produzenten war eines der Anliegen in diesem Jahr beim Festival und zeigt wie stark die Schweizer über die Landesgrenzen hinaus nach ihren Filmsujets und ihre Partnerschaften suchen. Neben Andreas Pfäffli stand auch Villi Hermann im Fokus. Der gebürtige Luzerner lebt seit langem im italienischen Teil der Schweiz und ist dort als Regisseur und Produzent aktiv. Einige seiner Filme konnten nun geschaut werden wie BANKOMAT (1989) mit Bruno Ganz in der Hauptrolle. Leider reißt Ganz‘ Leistung den Film nicht aus einer gewissen Naivität und Schwerfälligkeit heraus. Die Filminfrastruktur im Tessin ist etwas beschränkter als im Rest der Schweiz, weswegen es im Grunde sehr interessant ist, genauer auf die von dort stammenden Produktionen zu schauen. Dies ermöglichte das Festival und gewährte dem jungen Regisseur Niccolò Castelli die Ehre (als erster italienischsprachiger Film überhaupt), mit ATLAS die Filmtage zu eröffnen. Genauso wie seinem früheren Film TUTTI GIU (2012), beide von Villi Hermann produziert, haftet ATLAS etwas Ungeschicktes und Uninspiriertes an. Die Motivation seiner Protagonistin ist kaum nachvollziehbar, die beschriebenen Emotionen nicht nachzuspüren. Hier wollte der Autor einen hochpolitischen Film machen, sich gegen Rassismus positionieren, doch geht er dabei viel zu holzschnittartig vor, dass ihm jede Differenziertheit und schließlich Relevanz fehlt.

Mit einem ähnlichen Anliegen tritt Christian Johannes Koch mit SPAGAT hervor. Sein Film ist einer der wenigen – der einzige mit erkennbarem Schweizer Bezug – Spielfilme, die sich aus dem Programm des Festivals herausgeschält haben. Auch wenn die Handlung nicht in jedem Detail verständlich ist, überzeugt die Geschichte durch eine sensible und differenzierte Sichtweise auf Migration. Ein russischer Bauarbeiter lebt illegal mit seiner Tochter in der Schweiz, bis er einen Unfall hat und nicht mehr arbeiten kann. Die Tochter ist eine begabte Turnerin und kann nicht akzeptieren, dass sie nicht zu Turnieren gehen kann, nur weil die Familie nicht auffallen darf. Der Film ist die Geschichte über das Erwachsenwerden, zeitgleich mit einer Reflexion über das Fremdsein in einem Land, über Zivilcourage und den Drang zur Selbstverwirklichung des Menschen. Koch hat eine präzise Bildfindung mit einer dichten Inszenierung verbunden und dabei ein spannendes wie auch relevantes Werk geschaffen.

Stil aus L'INCONNU DE SHANDIGOR von Jean-Louis Roy © Solothurner Filmtage 2021

Stil aus L’INCONNU DE SHANDIGOR von Jean-Louis Roy © Solothurner Filmtage 2021

Zu den letzten Höhepunkten des diesjährigen Programmes zählt die Entdeckung eines Klassikers des französischsprachigen Kinos aus der Schweiz. Jean-Louis Roy war einer des Genfer Groupe 5, dieser Vereinigung von Regisseuren, die sich in den 1960er Jahren formierte und für einen neuen Schweizer Film einsetzte. Während die Werke von Claude Goretta oder Alain Tanner weitgehend bekannt sind, sind die der anderen Mitglieder weniger verbreitet. Daher war es nun ein Glück, L’INCONNU DE SHANDIGOR von 1967 von Roy sehen zu können. Der Film ist ein Kuriosum. Er ist eine Art Geheimagentenparodie, die an Filme wie DR. STRANGELOVE (1964) von Stanley Kubrick erinnert. Ein verrückter Professor hat einen sogenannten Annulator erfunden, der in den falschen Händen zur Massenvernichtungswaffe werden kann. Die Formel hat er in seiner Villa versteckt, wo er sich und seine Tochter von der Außenwelt isoliert. Mehrere Geheimdienste sind hinter der Formel her und versuchen erst seinen Assistenten, der den gelähmten Professor betreut, und dann seine Tochter zu verführen. Gerade die Darsteller der Geheimagenten zeichnen sich durch einen besonderen Witz aus. Unter ihnen ist übrigens auch Serge Gainsbourg, der genauso verrückt wie der Professor selbst erscheint und irgendwann zu den Tasten seines Klaviers greift und die Titelmusik des Films singt. Die Dialoge sind humorvoll und zum Teil kultig, wie der Ausspruch „Ich gebe ihm nicht die Erlaubnis, zu verstehen“. Eindrücklich sind die Schwarz-weiß-Aufnahmen des Films und die verschiedenen originellen Schauplätze, wie eine Schalterzentrale, ein Lagerraum einer Raffinerie oder auch das Seebad der Pâquis und der Park des Bastions mit dem Reformationsdenkmal in Genf.

Das Festival war vor Ort immer ein äußerst angenehmes Erlebnis, was an der Atmosphäre der Stadt, den hilfsbereiten Mitarbeitern und eben auch an der Möglichkeit des Austauschs unter Landesgenossen liegt. Es bleibt zu hoffen, dass es für die nächste Ausgabe wieder möglich sein wird.

Teresa Vena

Die Solothurner Filmtage fanden vom 20. bis 27. Januar 2021 statt.

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