Neujahrsempfehlungen von der BFF-Redaktion


New Year Under Water

Morgen klingt also das zweite Pandemie-Jahr aus. Ein Achterbahn-Jahr für die Filmbranche, in dem sich die meisten Kinos trotz Lockdowns und Hygienekonzept-Beschränkungen Gott oder Corona-Unterstützung über Wasser halten konnten, in dem wieder viele Festivals stattfanden. Einige filmische Perlen verpufften, waren genauso schnell im Kino wie wieder draußen, aber die Streaming-Optionen vieler Anbieter professionalisierten sich, Online-Formate wurden besser zugänglich und hybride Konzepte wie bei der DOK Leipzig werden zunehmend die neue Norm. Auch die BFF-Redaktion versuchte, für die „BFF on the road“-Rubrik so viel wie möglich physisch mitzunehmen, darunter Cannes und die Viennale.

Mit den nach den Feiertagen einsetzenden Kontaktbeschränkungen und weiteren Lockdownforderungen fällt es aber natürlich auch uns schwer, frohgemut in die 2022 zu gucken. Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen hat die BFF-Redaktion versucht, erbauliche Film- und Serien-Empfehlungen für die letzten kümmerlichen Tage des alten und die beginnenden Tage des anbrechenden Jahres zusammenzustellen. Selbst wenn das eine oder andere Schwermütige dabei sein sollte, gemeinsam ist den nun folgenden Erwähnungen doch, dass sie als Festival-, Streaming- oder schnöde YouTube-Entdeckung vor allem begeistert haben – und diese Begeisterung würden wir gern als Medientipps weitergeben. Als Medientipps, die ihr bereits oder bald schon in den Kinos oder online erleben könnt.

Viel Spaß beim Sich-Inspirieren-Lassen!

© Focus Features

THE CARD COUNTER

Darum geht es:
Der ehemalige Soldat Wilhelm Tell (Oscar Isaac) zieht mit kleinen Einsätzen durch die unbedeutenden Casinos der Vereinigten Staaten. Als er auf seinen existenziellen Streifzügen dem jungen Cirk (Tye Sheridan) und der Spielvermittlerin La Linda (Tiffany Haddish) begegnet, eröffnen sich ihm scheinbar neue Möglichkeiten. Doch er sieht sich ebenfalls mit den Dämonen aus seiner militärischen Vergangenheit im Irakkrieg konfrontiert.

Was du zum Film wissen musst:
Regie-Ikone Paul Schrader hat mit einem großartigen Oscar Isaac in der Hauptrolle ein stilsicheres Neo-Noir-Stück inszeniert. In seiner nüchternen Observation des Glücksspiels und mit einem apokalyptisch anmutenden Blick auf den Terror hinter dem vermeintlichen „War on Terror“ der Bush-Administration ist es dabei weitaus unbequemer und komplexer als Kevin Macdonalds thematisch ähnlich gelagertes Hollywood-Vehikel THE MAURITANIAN. -HK

SONGS MY BROTHERS TAUGHT ME © MUBI

SONGS MY BROTHERS TAUGHT ME

Darum geht es:
Die Geschwister Jashaun (Jashuan St. John) und Johnny (John Reddy) leben in einem Reservat im US-Bundesstaat South Dakota. Als ihr abwesender Vater unerwartet stirbt, wird ihre enge Bindung auf die Probe gestellt. Johnny gerät zunehmend in Konflikt mit den anderen Bewohnern und will nach Los Angeles ziehen, um ein eigenständiges Leben außerhalb der strengen Regeln der Reservatsgemeinschaft führen zu können. Doch er will dabei seine Schwester nicht im Stich lassen, die in den Traditionen ihres kulturellen Umfelds verwurzelt ist.

Was du zum Film wissen musst:
In ihrem eindrucksvollen Erstlingswerk zeichnet die Filmemacherin Chloé Zhao (NOMADLAND) ein zurückhaltendes Porträt des amerikanischen Hinterlands, welches nur selten im Film zu sehen ist. Mit ausdrucksstarken Laiendarstellern und einem Gespür für emotionale Momente eröffnet sie einen naturalistischen Einblick in die Lebensrealität der indigenen Reservate. Eine wunderbare Entdeckung im Programm des Streaminganbieters MUBI. -HK

KELTI © Irena Canić

KELTI (CELTS)

Darum geht es:
Ein Kindergeburtstag in Belgrad im Jahr 1993. Serbien befindet sich im Krieg. Trotzdem versucht Marijana (Dubravka Duda Kovjanić), eine Kostümparty für ihre kleine Tochter zu organisieren, die über die gegenwärtigen Sanktionen hinwegtäuschen kann. Statt Butter gibt es Margarine im Kuchen. Statt eines süßen Hundewelpen, den der Vater (Stefan Trifunović) ihr versprochen hat, wird der dreibeinige Nachbarshund geholt. Während die Kinder im Wohnzimmer als Ninja Turtles verkleidet herumtollen, betrinken sich die Eltern mit den Gästen in der Küche. Sie diskutieren über die politische Situation und die eigenen Beziehungen. Je weiter der Abend voranschreitet, desto ausgelassener wird die Stimmung. Marijana schleicht sich aus dem Haus und versucht einen kleinenBefreiungsschlag, der sie von der alltäglichen Tristesse ablenken soll.

Was du zum Film wissen musst:
Der Regisseurin Milica Tomović gelingt mit ihrem Langfilm-Debüt KELTI ein intimer und ehrlicher Einblick in das Leben im krisengeschüttelten Serbien der 1990er Jahre. Ohne Umschweifeund mit einem scharfen Blick für kleine Details porträtiert sie Figuren, die allesamt mit den gesellschaftlichen Konflikten und Umbrüchen in ihrem Umfeld überfordert sind und nach Auswegen suchen. Verzweiflung trifft auf Lebensfreude und Rebellion. Aus diesem Spannungsfeld zieht der Film eine aufgeschlossene und lebensbejahende Botschaft, ohne sich anzumaßen, über die gezeigten Konflikte urteilen zu müssen. -HK

ANNÄHERUNG AN THOMAS BRASCH

Darum geht es:
Den Schriftsteller und Filmemacher Thomas Brasch, kurz nach seiner Ausreise aus der DDR, im Jahr 1977. Georg Stefan Troller trifft Brasch für eine seiner legendären „Personenbeschreibungen“, essayistische und intime Begegnungen mit prominenten Größen, die Troller in bis dato unbekannter Weise interviewte. Kritisch nämlich, ohne je dem Rausch der Anbetung zu erliegen. Wortgewaltig außerdem. Die Personenbeschreibung von Brasch ist besonders gelungen, weil er sich gegen jedwede Kategorisierung verwehrte, Annäherungen als Vereinnahmungen von West-Seite ablehnte. Und sich doch Trollers Insistieren auf das Streitgespräch schließlich einlässt. Das ist nur poetisch und recht zum Nachdenken an – es ist auch in höchstem Maße amüsant und kurzweilig.

Das musst du wissen:
Kaum zu glauben, dass solche journalistischen Formate einst gang und gäbe waren. Ein wahnsinniges Niveau, ein Gespräch auf Augenhöhe. Philosphieren, Verwerfen, Zufälle zulassen. Georg Stefan Troller, der dieses Jahr 100 Jahre alt wurde, hat diesen zugewandten und zugleich kritischen Stil perfektioniert, der vielleicht auch biografische Wurzeln hat: Als Sohn eines jüdischen Pelzhändlers in Wien geboren, flüchtete Troller 1941 über Frankreich nach Amerika und war als GI an der Befreiung Dachaus beteiligt. Später lebte er in Paris, wo er für den Rundfunk zu arbeiten begann – und sein erstes viel beachtetes Format Pariser Journal (sein Portrait von Edith Piaf – fabelhaft) Furore machte. Wie inspirierend seine Arbeit war und ist, kann man unter anderem an Andreas Kleinerts Film LIEBER THOMAS erahnen, der die Personenbeschreibung Braschs stark referenziert und zitiert „Sie sind der Kellner, die Fernsehzuschauerinnen sind die Gäste und ich bin das Schnitzel“. -MK

LES GLANEURS ET LA GLANEUSE

Darum geht es:
Sammeln als (Über)lebensstrategie. Mit ihrer unbefangenen, respektvollen Art begegnet Agnès Varda einem Clochard, der Marktreste aufsammelt, sinniert mit Weinbauern über die Vernichtung der Restbestände, damit diese nicht „umsonst“ mitgenommen werden und und und. Dabei denkt sie auch über ihre eigene Sammelleidenschaft nach. Denn auch Filmemachen ist ja eine Form des Findens und Zusammentragens.

Was du zum Film wissen musst:
Der Dokumentarfilm aus dem Jahr 2000 ist eine der unzählbaren filmischen Perlen, die Agnès Varda der Nachwelt hinterlassen hat. Ein poetisches Filmessay, das aber trotz seiner vielen Mikrokosmen immer den globalen Kontext mitreflektiert – zum Beispiel die dem Kapitalismus innwohnende, sinnlose Unmöglichkeit, überschüssiges Essen an Mittellose weiterzugeben. Als Teil einer großen Varda-Kollektion bei MUBI zu sehen. – MK

DAS MÄDCHEN MIT DEN GOLDENEN HÄNDEN

Darum geht es:
Ein ostdeutsches Provinzstädtchen im Jahr 1999. Gudrun (Corinna Harfouch) feiert ihren 60. Geburtstag, zu dem ihre erwachsene Tochter Lara (Birte Schnöink) aus Berlin anreist. Zum Ehrentag der Mutter hat Lara ihr eine Rede geschrieben, die Gudrun jedoch nicht interessiert – sie schreibt die Rede, die ihre Tochter halten soll, vorsichtshalber selbst. Ihre Geburtstagsfeier richtet die eigensinnige Gudrun in dem ehemaligen DDR-Kinderheim aus, in dem sie aufgewachsen ist. Doch während des Fests, zu dem das halbe Dorf erschienen ist, erfährt Gudrun, dass „ihr“ Heim an einen ortsfremden Investor verkauft werden soll, der ein Hotel daraus machen will. Für Gudrun bricht eine Welt zusammen.

Was du zum Film wissen musst:
Die Schauspielerin Katharina Marie Schubert legt ihr Spielfilmdebüt als Regisseurin vor, das trotz seines zurückgenommenen Tons bewegt und sich auf routinierte Darsteller:innen wie Gabriela Maria Schmeide, Imogen Kogge und Jörg Schüttauf verlassen kann. Wie schon in diversen anderen Filmen, u.a. in Jan-Ole Gersters LARA, spielt die großartige Corinna Harfouch auch in DAS MÄDCHEN MIT DEN GOLDENEN HÄNDEN eine hartherzig wirkende Mutter, deren Fassade im Laufe des Films zu bröckeln beginnt. DAS MÄDCHEN OHNE HÄNDE, ein Märchen der Gebrüder Grimm, verleiht dem Film über ein angespanntes Mutter-Tochter-Verhältnis und zugleich über eine ostdeutsche Kleinstadt in den Jahren nach der Wende eine weitere Deutungsebene. – StB

Kinostart: 17.02.2022

Still aus PETITE MAMAN von Céline Sciamma @ Lilies Film
Still aus PETITE MAMAN von Céline Sciamma @ Lilies Film

PETITE MAMAN

Darum geht es:
Die achtjährige Nelly (Joséphine Sanz) hat gerade ihre Großmutter verloren. Gemeinsam mit ihren Eltern fährt sie in das Elternhaus ihrer Mutter Marion (Nina Meurisse), um es auszuräumen. Nelly weiß, dass ihre Mutter als Kind eine Höhle im nahe gelegenen Wald gebaut hat – und macht sich vergeblich auf die Suche danach. Als Nelly eines Morgens aufwacht, ist ihre Mutter Marion plötzlich nicht mehr da. Als Nelly an diesem Tag wieder in den Wald geht, trifft sie dort ein gleichaltriges Mädchen (Gabrielle Sanz), das gerade eine Höhle baut. Es sieht Nelly sehr ähnlich – und heißt Marion.

Was du zum Film wissen musst:
Wie wäre es gewesen, wenn man seine Mutter als Kind kennengelernt hätte? In nur 72 Filmminuten geht die französische Regisseurin Céline Sciamma in PETITE MAMAN diesem Gedankenexperiment nach – und erzählt die zauberhafte kleine Geschichte zweier Mädchen. Sciamma, vielfach ausgezeichnet für PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN (2019), widmet sich in ihrem filmischen Werk weiblichen Perspektiven und lässt den Filmzuschauer:innen viel Raum für eigene Interpretationen. So inspiriert PETITE MAMAN zu gedanklichen Zeitreisen in die eigene Familiengeschichte. – StB

Kinostart: 17.02.2022

THE CASE YOU © Lenn Lamster
THE CASE YOU © Lenn Lamster

THE CASE YOU

Darum geht es:
Fünf junge Schauspielerinnen treffen sich mit der Regisseurin Alison Kuhn und einem nur aus Frauen bestehenden Filmteam, um in geschütztem Rahmen traumatische Erfahrungen während eines Castings aufzuarbeiten, bei dem es zu sexualisiertem Machtmissbrauch durch den Regisseur und mehrere andere Beteiligte kam.

Was du zum Film wissen musst:
Regisseurin Alison Kuhn, geboren 1995, studiert Regie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Auch sie nahm an besagtem Casting teil. Das Filmprojekt und das Rekonstruieren der Übergriffe in Form eines sogenannten Reenactments ließ sie psychologisch begleiten. Für THE CASE YOU gewann sie u.a. den Deutschen Dokumentarfilmpreis in der Kategorie „Kunst und Kultur“ und den Student Award beim DOK.fest München 2021. – StB

Kinostart: 10.03.2021

BROTHER’S KEEPER © Türksoy Gölebey / Asteros Film

BROTHER’S KEEPER

Darum geht es:
Ein abgelegenes Internat in den Bergen Anatoliens. Es ist tiefster Winter, die Schneedecke reicht bis zu den Knien und es herrschen eisigste Temperaturen. Der Ton in der Schule ist ähnlich frostig, die Regeln sind streng, die Überwachung lückenlos. Mit gesenktem Kopf und aus dem Augenwinkel beobachtet Yusuf (Samet Yıldız) wie sein Freund Memo (Nurullah Alaca) sich für den Rest der wöchentlichen Duschzeit mit eiskaltem Wasser waschen muss – als Strafe. Nach merkwürdigen Vorfällen in der Nacht ist Memo am nächsten Morgen krank, kann kaum aufstehen, geschweige denn am Unterricht teilnehmen. Auf der Suche nach Hilfe für seinen Freund begibt Yusuf sich auf eine Odyssee durch die Schulbürokratie.

Was ihr über den Film wissen müsst:
Das abgeschlossene Internat ist ein Mikrokosmos, gleichsam Prisma und Lupe, durch die der Film die türkische Gesellschaft betrachtet. Yusufs Suche offenbart neben der emotionalen Kälte des Internats auch dessen kafkaeske, autoritäre Hierarchien und spielt damit auf den Umgang mit der kurdischen Minderheit in der Türkei an. Gleichzeitig baut der Film eine Spannung auf, die an Kriminalfilme erinnert, denn bis zu Auflösung am Ende ist nicht klar, was Memo zugestoßen ist. Dazu mischen sich Elemente der Farce, Momente absurder Komik, die an Sketche von Buster Keaton erinnern. So zum Beispiel, wenn immer mehr Lehrer und schließlich der Schulleiter im Krankenzimmer auftauchen und jeder erst einmal auf dem glatten Boden vor der Tür ausrutscht. Der emotionalen Kälte des Internats setzt der Film die Freundschaft zwischen Yusuf und Memo entgegen. Obwohl Memo den größten Teil des Films bewusstlos ist und die Jungen kaum miteinander sprechen, ist ihre Freundschaft spürbar. Yusufs Fürsorge macht fast schmerzhaft deutlich, dass die Jungen zwar strengstens überwacht und reglementiert werden, aber gleichzeitig auch vollkommen auf sich allein gestellt sind. Ferit Karahans BROTHER’S KEEPER könnte in den 1970er-Jahren spielen, so altmodisch ist der Umgangston, nur die Handys verorten ihn fest in der Gegenwart. Der Sozialkritik des Films tut das keinen Abbruch, ganz im Gegenteil, sie ist dadurch nur umso gegenwärtiger. – TR

SPENCER © DCM

SPENCER

Darum geht es:
Lady Diana Spencer, Princess of Wales, Königin der Herzen, tragischste aller Märchenprinzessinnen. Schon zu Lebzeiten überschattete ihr Image nicht nur sie selbst, sondern auch das britische Königshaus. Nicht umsonst wurde sie in den 1990ern als meistfotografierte Frau der Welt bezeichnet. Die Eckpunkte ihrer Biografie haben sich tief ins kulturelle Gedächtnis gegraben: Die unglückliche Ehe mit Prince Charles, die emotionale Kälte der britischen Königsfamilie, die Unersättlichkeit der Boulevardpresse, die Scheidung und schließlich der tödliche Autounfall in Paris. Und als wäre ihr Leben tatsächlich ein Roman, setzte Diana ihren Weltruhm geschickt für soziales Engagement ein und begegnete anderen Menschen stets auf Augenhöhe – das Positiv zum Negativ des Bildes vom weltfremden britischen Königshaus.

Was du zum Film wissen musst:
Der erste Diana-Film kam schon 1982, ein Jahr nach ihrer Hochzeit mit Prince Charles, auf den Markt. Inzwischen gibt zahlreiche Filme und Serien, die ihr Leben aus verschiedenen Perspektiven erzählen. Darunter sowohl katastrophale Flops wie Oliver Hirschbiegels DIANA (GB 2013) mit Naomi Watts in der Titelrolle als auch durchschlagende Erfolge, wie die dritte Staffel der Netflixserie THE CROWN (Peter Morgan, GB 2016- ), in der Emma Corrin Diana verkörpert.

Jetzt hat der chilenische Regisseur Pablo Larraín einen Diana-Film gedreht, der am 13. Januar in den deutschen Kinos anlaufen soll. Diana wird hier von Kristen Stewart gespielt, die für ihre darstellerische Leistung bisher viel gelobt wurde und inzwischen als Oscar-Kandidatin gilt. Vor allem aber scheint SPENCER (UK/D 2021) eine Lücke zu füllen, die bisherige Doku- und Spielfilme nicht zu schließen vermochten. Denn während es an reißerischen oder sentimentalen Filmen über Diana keineswegs mangelt, hat es bisher kaum eine Produktion geschafft, das zu tun, wofür Diana so bekannt war: ihr als Mensch, der mal zerbrechlich, mal stark ist, gerecht zu werden.

Pablo Larraín hat mit JACKIE (USA/CL/F 2016) gezeigt, dass er Zeitgeschichte neu erzählen kann. Der Film widmet sich zwar der Ermordung von John F. Kennedy, konzentriert sich aber erstens auf Jackie Kennedy (Natalie Portman) und greift zweitens das Thema der Mythenbildung um den Politiker auf. Im Fokus stehen zwar die Kennedys, aber der Film überschreitet souverän die Grenzen des Historiendramas und des Biopics. Gute Voraussetzungen also, um auch über Lady Diana einen sehenswerten Film zu machen.

Und tatsächlich: Anstatt die allseits bekannten Stationen ihres Lebens nachzuerzählen, beschränkt SPENCER sich auf die Weihnachtstage, die Diana 1991 mit den königlichen Verwandten in Sandringham House in Norfolk verbringt. Der Film konzentriert sich auf Dianas Innenleben und greift dafür Elemente des Horrorgenres auf. Nicht zuletzt der Soundtrack von Johnny Greenwood, der schon Filme wie PHANTOM THREAD (Paul Thomas Anderson, USA 2017) musikalisch untermalte, trägt zur gespenstischen Stimmung des Films bei. Greenwood hält sich von schwelgerischen Melodien fern und siedelt den Soundtrack irgendwo zwischen Barock und Free Jazz an. Er bedient sich also musikalischer Elemente, die einem Film über das britische Königshaus angemessen scheinen (Stichwort: Händel) und bricht sie gleichzeitig. Das Ergebnis ist so melancholisch wie verstörend. Das Quietschen der Geigen erinnert stellenweise an Bernard Herrmanns Soundtrack für PSYCHO (Alfred Hitchcock, USA 1961).

Im Interview mit dem österreichischen Filmmagazin ray sagte Kristen Stewart: „Die einzige Möglichkeit, ehrlich und aufrichtig zu erzählen, liegt darin, die Geschichte so wiederzugeben, wie man sie selbst empfindet. Es geht darum, sich von der eigenen Sehnsucht leiten zu lassen und daraus zu lernen.“

Nur wenige Kostümfilme nehmen diesen Anspruch ernst. Viel zu oft geht es darum, berühmte Persönlichkeiten zu imitieren oder „die Wahrheit“ ein für alle Mal abzubilden. Dabei sind Filme eine Kunstform mit emotionaler Schlagkraft, sie bieten die Möglichkeit, subjektiv zu erzählen. Der Anspruch von SPENCER, genau das zu tun, Dianas Geschichte so zu erzählen, dass sie sich wahrhaftig anfühlt, ohne auf bekannte Klischees zurückzufallen, ist einen Kinobesuch wert. – TR

Kinostart: 13.01.2022