THE APARTMENT WITH TWO WOMEN von Kim Se-in


„Ich fürchte, meine Mutter bringt mich um“

Nach seiner Weltpremiere im vergangenen Jahr auf dem Busan Filmfestival wurde das Sozialdrama THE APARTMENT WITH TWO WOMEN im Panorama auf der diesjährigen Berlinale gezeigt. Es ist der erste abendfüllende Film der südkoreanischen Regisseurin Kim Se-in. Und ihr Debüt ist sehr vielversprechend. Sie beweist einen feinen Sinn für Humor und eine genaue Beobachtungsgabe.

Im Mittelpunkt dieser sehr berührenden Sozialstudie stehen eine Mutter und ihre Tochter. Sie teilen sich die im Titel des Films erwähnte Wohnung. Ansonsten ist ihre Verbindung eher lose. Tatsächlich könnten sie auch zufällige Mitbewohner sein – welche, die sich nicht gut verstehen. Je mehr Yi-jung (Im Jee-ho) versucht, die Zuneigung ihrer Mutter zu gewinnen, desto heftiger weist Su-kung (Yang Mal-bok) sie zurück.

Es ist fast schon beschönigend zu sagen, dass die Beziehung der beiden angespannt ist. Sie können nicht kommunizieren, ohne passiv-aggressiv oder schnippisch zu werden. Yi-jung geht ihrer Mutter eindeutig auf die Nerven, aber einen besonderen Grund dafür scheint es nicht zu geben. Ihre bloße Existenz scheint Su-kung zu provozieren. Ihre gegenseitige Frustration entlädt sich von Szene zu Szene. Eine der ersten Konfrontationen eskaliert, als die beiden sich streiten, Yi-jung aus dem Auto steigt und Su-kung in ihrer Wut auf das Gaspedal tritt und ihre Tochter von hinten anfährt.

Darauf hätte man als Zuschauer vorbereitet sein können. Die Kamera sitzt im Auto, der Zuschauer nimmt die gleiche Perspektive wie Su-kung ein, die durch die Windschutzscheibe schaut. Ihre Anspannung spürt man, ihre angespannten Muskeln sieht man. Dennoch kommt ihre Reaktion unerwartet. Warum kann sie sich nicht rechtzeitig beruhigen, wie es wohl die meisten anderen Personen in ihrer Situation getan hätten? Aber nein, sie tut es wirklich. Und so bleibt es auch für restlichen Film, immer wieder überschreitet Su-kung Grenzen.

Su-kung entspricht nicht den Erwartungen. Sie ist nicht so, wie man sich das Verhalten einer Mutter vorstellt. Sie widerspricht dem, in den meisten Gesellschaften fast heiligen, Ideal einer Mutter. Sie zeigt keine Spur von Zärtlichkeit gegenüber ihrer Tochter. Einmal sagt Yi-jung zu ihren Arbeitskollegen, sie glaube, dass ihre Mutter in der Lage wäre, sie eines Tages umzubringen. Das löst bei den Anwesenden ein verlegenes Schweigen aus. Und sie sind schwer erleichtert, als sie vermuten, dass es nur ein Scherz war. Aber in Wirklichkeit ist es nicht so einfach.

Yi-jungs Situation ist verzweifelt. Für Außenstehende ist es schwierig, sich in sie hineinzuversetzen. Die Liebe einer Mutter wird von den meisten als eines der wenigen Dinge im Leben angesehen, auf die man bedingungslos zählen kann. Es ist zweifelsohne ein Tabu, an dieser Gewissheit zu kratzen. Man empfindet Mitleid mit Yi-jung. Sie hat niemanden, an den sie sich wenden kann. Keinen Vater, keine Freunde. Sie sehnt sich nach Zuneigung. In der Beziehung zu ihrer neuen Arbeitskollegin wird deutlich, dass sie mit Nähe nicht umgehen kann. Beim kleinsten Anzeichen von Freundschaft versucht sie, mit aller Kraft an dieser festzuhalten. Mit dem Ergebnis, dass sie ihr Gegenüber vergrault.

Regisseurin Kim schafft mit Su-kung einen sehr komplexen Charakter. Su-kung ist nicht nur egoistisch und kindisch. Es ist klar, dass das Leben nicht einfach für sie war und dass sie als alleinerziehende Mutter viel Kritik von der Gesellschaft einstecken musste. Um sich zu schützen, hat sie eine kalte Fassade aufgebaut. Für ihre Freunde ist sie ein unterhaltsamer Paradiesvogel. Sie beneiden sie um ihre vermeintliche Freiheit. Gleichzeitig können sie aber auch nicht verbergen, dass sie auf sie herabsehen. Kein intaktes Familienleben zu haben, bedeutet für sie im Leben gescheitert zu sein.

Da es sich um das Porträt dieser beiden Frauen handelt, ist die Besetzung von wesentlicher Bedeutung. Yi-jung wird von Im Jee-ho mit viel Feingefühl gespielt. Sie zeigt die Zerbrechlichkeit der Figur und die Ängste, die ihre unbeantworteten Bedürfnisse hinterlassen. Dennoch ist Yi-jung kein Opfer, sie weiß, dass sie sich von ihrer Mutter trennen muss und findet schließlich den Mut dazu. Auch wenn man sich an manchen Stellen wünscht, dass Yi-jung etwas mehr reagiert, etwas kämpferischer ist, kann man sich in jedem Moment mit ihr identifizieren. Und genau das liegt an den Fähigkeiten der Schauspielerin. Es war in der Tat nicht einfach, sich gegen ihren Gegenpart durchzusetzen.

Yang Mal-bok als Su-kung ist nämlich eine Naturgewalt. Sie hat zuletzt in der koreanischen Erfolgs-Serie SQUID GAME mitgespielt. Sie schafft es, beim Zuschauer widersprüchliche Gefühle hervorzurufen. Ihre Figur hat etwas Abstossendes, aber auch Rührendes. Yang wirbelt durch den Film wie ihre Figur durch ihr Leben. In den Momenten der Ruhe sieht man in ihre Augen die tiefe Traurigkeit, die in Su-kung steckt.

Obwohl THE APARTMENT WITH TWO WOMEN 140 Minuten lang ist, fühlt er sich nicht besonders lang an. Das ist dem präzisen Drehbuch zu verdanken, das eine hohe Dichte an erzählerischen Motiven enthält. Das Tempo des Films ist grundsätzlich ruhig und unaufgeregt, aber dennoch hat jede Szene ihre Aussage. Die Bildfindung ist gut ausbalanciert, die Kamera folgt den Protagonisten aus der Nähe. Und doch bewahrt sie eine gewisse Distanz, die notwendig ist, um die eigene Lebenserfahrung der Zuschauer und die evozierten Emotionen zu reflektieren.

Es gibt mehrere Wohnungen, die im Film von Bedeutung sind. Die erste ist die gemeinsame Wohnung von Mutter und Tochter. Dort ist es für sie schwierig, einen privaten Raum zu finden. Die Zimmer liegen sehr eng beieinander, es stapeln sich viele persönliche Dinge, die den Eindruck des Erstickens erwecken. Es fällt wenig Licht ein und die dunklen Möbel unterstützen eine düstere Atmosphäre. Im Gegensatz zur Wohnung der Frauen ist die Wohnung, in die Su-kung mit ihrem neuen Freund ziehen will, heller und größer. Auch die Wohnung von Yi-jungs Kollegin ist, obwohl sie klein ist, viel freundlicher als die von Yi-jung und Su-kung.

Was die Ausstattung angeht, zeigt Regisseurin Kim das gleiche Feingefühl wie bei der Entwicklung ihrer Figuren. Sie hat einen besonders intimen Film geschaffen, der gleichzeitig ungemütlich und oft bedrückend, aber auch ungemein berührend ist. THE APARTMENT WITH TWO WOMEN ist bezaubernd. Ein fantastischer Erstlingsfilm einer talentierten jungen Regisseurin, von der hoffentlich noch mehr kommen wird.

Teresa Vena

THE APARTMENT WITH TWO WOMEN, Regie: Kim Se-in, Schauspielerinnen: Im Jee-ho, Yang Mal-bok