In Hamburg gewesen, verknallt


Trailer Kurzfilm Festival Hamburg 2022 © Phạm Ngọc Lân

Festivalbericht vom 38. Kurzfilm Festival Hamburg

Im Grunde ist es schon um mich geschehen, als ich die Nahverkehr-Fähre von HH Williamsburg besteige. Langsam fährt die Fähre durch Containerburgen, dann kommen die ersten Schiffsungetüme mit ihren kaum fassbaren Dimensionen und schließlich öffnet sich der Kanal und alles ist Hamburg-Panorama. Elbphilharmonie, Hafen, Landungsbrücken. Der Weg nach St. Pauli zur B-Movie Kulturinitiative, ein unabhängiges, ehrenamtlich organisiertes Kino, ist dann auch nicht mehr weit. Hier wartet schon das erste Programm des 38. Kurzfilm Festival Hamburg (31.5 – 6.6.), das dieses Jahr wieder physisch stattfinden kann. Und startet mit einem unglaublich feinen Trailer zum Festivalmotto „Echoes from the near future“, von Lan Phạm Ngọc, der das fantastisch-prophetische Potential des Kinos einerseits und seinen „konservierenden“ Charakter andererseits wunderbar zu bebildern scheint: Ein Schatten bewegt sich in einer Höhle, das Bild des Schattenmanns friert ein, aber die Höhle plätschert weiter, der Schatten steht auf und geht. Der dann folgende Internationale Wettbewerb 8 versammelte dann gleich im Anschluss eine Reihe von Themen, die auch in der Folge die stärksten der ohnehin ungemein starken Beiträge auszeichnen sollte: die (Un)möglichkeit von Intimität, Mechanismen der Unterdrückung/Unterwerfung und queer-ästhetischer Widerstand.

Da war zum Einen der ungemein amüsant-tragische DREAMING von Nelson Yeo. Ein Ehepaar trifft einen alten Schulfreund wieder und alte, nie artikulierte Begehren kämpfen sich mal subtil, mal in-yer-face ironisch an die Oberfläche: Der sensible und eitle Junggeselle zeichnet ein Herz in den Sand und verwischt es wieder, der prollige Ehemann entdeckt die Spuren im Sand und malt aus den übrig gebliebenen runden Formen natürlich gleich einen Penis zusammen. Wie in vielen Stoffen ist das vielleicht für westliche Zuschauer*innen nicht gleich greifbare, kulturell spezifische Moment besonders interessant: Der nahtlose Wechsel zwischen den Sprachen, die verhaltenen Gefühlswelten. Regelrecht betörend ist in diesem Zusammenhang Maryam Tafakorys NAZARBAZI (siehe auch Festivalbericht Rotterdam), der das iranische Spiel der Blicke im iranischen Kino nach der Islamischen Revolution 1979 und dem Verbot von Intimität auf der Leinwand als poetische Found Footage Collage aus Filmklassikern aufgreift – und zeigt, wie sinnlich das Umgehen desselbigen sein kann. Ein Blick, ein Gegenstand, der gereicht wird, das Verarzten einer Wunde – alle Szenen sind erotisch aufgeladen. Tafakory erzählt dann im Q&A, wie arbiträr der Staat seine Zensur vorantreibt. Neben einem Set von bekannten No-Gos werden auch immer mal wieder neue Überraschungsverbote eingeführt, die Zensur oder Verhaftung zur Folge haben. Ein Freund von ihr, der vorher staatliche Förderung für alle Produktionsschritte erhalten hatte, musste plötzlich jegliche Katzenszenen aus seinem Film entfernen (der Hund ist als unreines Tier eh schon mit einem Bildtabu belegt, für die Katze gilt das „eigentlich“ nicht).

Das Aufzeigen von gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen war auch das Sujet von URBAN SOLUTIONS, die von den cinema copain-Filmemacher*innen Arne Hector und Minze Tummescheit in enger Kollaboration mit ihren brasilianischen Mitstreiter*innen Luciana Mazeto und Vinicius Lopes entstand. Er widmet sich anhand der von außen absurd anmutenden Verbarrikadierung der weißen brasilianischen Bevölkerung, die nur durch die Ausbeutung der schwarzen Bevölkerung als Sicherheitspersonal gewährleistet werden kann – vor der die weiße Oberschicht wiederum Angst hat. Effektiv kontrastieren die Regisseur*innen in Brasilien allgegenwärtige Bilder sowie Notizen des deutschen Malers Johann Moritz Rugendas mit den Gedanken des „echten“, tatsächlichen Wachpersonals im Jetzt und Hier. Und zeigen deutlich, dass durch Sprache und Kunst Unterdrückung manifestiert und fortleben kann – mit nahezu unveränderten kolonialen Verhältnissen bis ins Jetzt und Heute. NEIGHBORING SOUNDS kommt in den Sinn.

HANDBOOK © Pavel Mozhar

Auch der Hauptpreis des Festivals würdigte eine Betrachtung von System und Struktur: HANDBOOK von Pavel Mozhar legt die staatlichen Repressionen in Belarus offen. Die Entscheidung, die Polizeigewalt nicht zu fiktionalisieren und stattdessen performativ matter-of-fact nachzustellen, lässt die Handgriffe um so brachialer und plastischer erscheinen – vielleicht, weil es sich um einen bewussten Gegenpol zur emotional übersättigten Bilderwelt aus Kriegsregionen handelt? Andere spannende Filme deklinierten die Ausdehnung der Festung Europa anhand der ungarischen, EU-finanzierten endlosen Grenzbebauung (FEARKINGDOM von Linn Löffler und Kornel Szilagyi) oder staatlichen Regulierung von Licht und Dunkelheit von Licht bzw. Elektrizität im Libanon, aber auch in New York oder Paris (كل نجومك على صباطي / ALL OF YOUR STARS ARE BUT DUST ON MY SHOES von Haig Aivazian) durch. Ausschluss einerseits und totalitär anmutende „Fixierung“ des Individuums in ohnmächtiger Opferrolle andererseits.

Mit Linn Löffler, Kornel Szilagyi, Arne Hector und Minze Tummescheit waren in Laboren organisierte Filmemacher*innen vor Ort. Passend zu einem Schwerpunkt des Festivals, der sich dem Labor als Gegenbewegung zur kanon/cannes-abfeiernden Überhöhung des finalen Filmproduktes und singulärer Akteur*innen zuwandte: Labor und Labor-Arbeiten als kollektive, oft transnationale und interdisziplinäre Projekte und Experimenträume, jenseits gesetzter Form und Verwertung. Da auch der internationale Fokus des Festivals auf Südostasien lag, zeichnete für die sehr atmosphärisch gestaltete Ausstellung zum Thema „Home – And Its Hidden Corners“ das indonesische Kollektiv LAB LABA LABA verantwortlich. Und stellte multimediale Installationen aus, die Heimat als fluiden Zustand jenseits rigider geografisch-nationaler Kategorien synästhetisch verorten.

Wenn es so etwas wie die Kategorie der „queeren Ästhetik“ gibt, dann war auch diese in vielen Festivalbeiträgen anzutreffen. Der narrative Kurzfilm BECOMING MALE IN THE MIDDLE AGES, als bester Film in Rotterdam ausgezeichnet, fand hier starke Allianzen, zum Beispiel in Vika Kirchenbauers THE CAPACITY FOR ADEQUATE ANGER. Das dokumentarische Selbstverortungsessay stelllt die Frage, wie sich soziale Ungleichheit adressieren lässt – und auch Gehör finden kann, wenn das Gehörtwerden doch eigentlich den unlängst Aufgestiegenen vorbehalten ist.

AYANA © Anouk Meles

Formal irritierend und deswegen spannend: AYANA von Anouk Meles. Sinnbildlich mit dem Ahorn-Baum verbunden, der im Laufe seines Lebens das Geschlecht wechseln kann, begibt sich Anouk oder Aniko in die Tierwelt, in der sie sich akzeptiert und ohne den gesellschaftlich dazu „erforderten“, normierten Körper als Frau angenommen fühlt. Es sind beeindruckende, in ihrer Ästhetik tatsächlich oft an Tierdokus erinnernde Aufnahmen, die Anouk oder Aniko einfängt, vor allem des nachts: Von der Geburt eines Schafes bis zum Tod eines Dachses, vom europäischen Wald bis zu den schwindelerregenden Ziegenklettereien des Cingano Dams. Des Weiteren beeindruckte Amina Castaignes #31# APPEL MASQUÉ. Mehr hybrides Musikfragment als Film, umkreist #31# eine lange, beschwörende und ihren eigenen Sog entfaltende Raï-Performance, im ruinösen Oran, an einem geheimen Ort, der wie ein Safer Space für die queere Community wirkt. Der Film greift das subversive Element des algerischen Raï auf, der politisch oft unerwünschte Themen wie Sexualität behandelt.

AMAZON WOMAN © Anna Vasof

Überhaupt fanden sich einige Filme im Programm, die die Grenzen ihrer eigenen, gewählten Form ausloteten. Zum Beispiel Anna Vasofs herrlicher AMAZON WOMAN, in der ihr Kopf zum wortwörtlichen Experiment wird: Statt auf dem Smartphone tippt Vasof auf ihrem eigenen Gesicht herum, das kopfgroße Smartphone schaut teilnahmslos zu. Oder: Vasofs Haupt ist der Teebeutel, der immer wieder ins heiße Wasser getaucht wird; der Teebeutel sitzt indes locker auf ihren Schultern. Und so weiter. AMAZON WOMAN lässt sich natürlich einfach als einfacher Pointenjoke genießen, er lässt sich aber auch als Metapher für Entfremdung schauen. Ständig bewältigen schließlich auch viele von uns (Amazonen des Alltags?) einfache Handgriffe, ohne sie bewusst zu reflektieren. Gerade die Handy-Episode lädt zu solchen Überlegungen ein: Wie bewusst ist der Blick auf das Handy, wer kontrolliert hier eigentlich wen? Und: Ist das Handy wirklich das Objekt und der Mensch das Subjekt?

BACKFLIP © Nikita Diakur

Anders konsequent: Der Animationsfilmemacher Nikita Diakur mit seinem BACKFLIP – Diakurs filmischer Versuch, der eigenen Angst vor der Künstlichen Intelligenz produktiv zu begegnen. Diakur bringt seinem Avatar einen Rückwärtssalto bei, indem er ihn via Machine Learning „trainieren“ lässt. Der Avatar scheitert, schelmisch grinsend, kläglich. Er bricht sich die Beine, landet wie ein Käfer auf dem Rücken, manchmal reißt er dabei alle Gegenstände in der Umgebung mit sich. Während Diakur in UGLY und FEST eine zum Teil detaillierte Lebenswelt sozial miterzählt, ist der Character in BACKFLIP ziemlich solitär unterwegs, entweder im Park oder in seinem Arbeitszimmer. Ein isoliertes Scheitern, das man natürlich auf den mitunter einsamen Prozess des Filmemachens/Animierens selbst beziehen kann. Aber eigentlich ist BACKFLIP dazu zu lustig und kurzweilig, fast schon Slapstick-Humor in Reinform. Die zumindest die Autorin dieser Zeilen über Slapstick überhaupt nachdenken lässt: Handelt es sich doch um eine Form des Humors, die nicht in die Zeit passt, weil ihrer Fokussierung auf den eigenen Körper als ständiges Kollisionsrisiko großes Diskriminierungspotential innewohnt.

Ein großes Festivalhighlight bildete auch die „A Wall is a Screen„-Tour. Die Organisator*innen des Projekts docken an unterschiedlichen Festivals an, und stellen dann in der Nähe des Veranstaltungsorts Filmwanderungen auf die Beine. Am Freitagabend wurden in der Nähe des S-Bahnhofs Diebsteich also sechs Filme mit Stadtfokus an unterschiedliche Wände geworfen, die bald städtebaulichen Maßnahmen, darunter sicherlich auch gentrifizierenden, weichen müssen. Anmeldung und Ticketkauf erfordert das Konzept nicht, einfaches Mitlaufen war erwünscht. Das kollektive Schauen, der ständige Wahrnehmungswechsel und immer neue „Sitznachbar*innen“ lassen die Filme tatsächlich in den besonderen Kulissen intensiv wirken, allen voran Güzin Kars aufwühlender DEINE STRASSE. Oder vielleicht war es auch einfach die lange Festivalabstinenz (auf Kurzfilmfestivals bezogen), die die Sinne besonders aufhorchen und nachfühlen ließ. Oder das Schlafdefizit. Oder neue Festivalbekanntschaften. Die Partys abends? Und bestimmt auch St.Pauli und Schanze-Abstechern zwischendrin. Das Kurzfilm Festival Hamburg ist jedenfalls in seiner Gänze ein ziemlicher Heartbreaker: Ein Festival, das noch nen zentnerschweren Brocken sentimentalen Festival-Liebeskummer – „Ach, war das schön!“ – ins Reisegepäck legt, wenn man übermüdet wieder abreist.