Notizen zum International Film Festival Rotterdam 2022 (26. Januar – 6. Februar)


MET MES © IFFR 2022

Diskursive Waffen und Messer

Die gute Absicht zählt – aber ist das wirklich so? Durch eine Vorabend-Fernsehsendung zu Ruhm und Geld gekommen, möchte Eveline (Hadewych Minis) ihrem Leben endlich Sinn verleihen. Sie kündigt also beherzt, und beschließt von jetzt auf gleich Dokumentarfilmerin zu werden, um „ihr soziales Umfeld“ wahrheitsgetreu aufzunehmen. Ein lachhafter Gutmensch ist sie und über alle Maßen karikiert wie das ganze Personal in MET MES Und natürlich lebt sie keine ihrer eigenen Werte: Als ihr von Yousef (Shahine El-Hamus) die Kamera gestohlen wird, bezichtigt sie ihn eines Messerübergriffs – der gar nicht passiert ist. Und weil Yousef Eltern hat und aus einem Problemviertel stammt, ist schnell klar, wer die Wahrheit gepachtet hat. White saviour, mit ganz schön dreckiger Weste. Sam de Joongs dritter Spielfilm entlarvt die weltrettenden Intentionen der Hauptfigur als hilflose Gesten und zeigt, wie schnell die Maske ab ist, wenn es um die eigene Haut oder auch nur das eigene Narrativ geht. Dass sie mit diesem kläglichen Versuch der Selbstinszenierung scheitert, liegt an Yousef, der sich wehrt, ein hilfloses Objekt oder auch wehrloses Opfer ihre Paraden zu werden. Die Kamera hat er stehlen wollen, um dazu zu gehören – eine lächerliche Sonnenbrille, die auch sein großer Schwarm trägt – ist sein einziger, naiver Begehr. Wahrscheinlich um die Künstlichkeit der Medieninszenierung herauszukehren, ist der ganze Film in greller Neonpalette koloriert, und die Welt, durch die sich die Charaktere bewegen, ist durch seltsame Objekte geprägt. Eine Art 80er-Retro-Futurismus bietet der Film an, aber warum, erschließt sich nicht, seltsam kalt bleibt der Film. Vielleicht will Sam de Joong damit suggerieren, dass der tiefgreifende, unbewusste Rassismus alle Zeiten überdauert hat und andauern wird, egal, wie die Diskurse stattfinden.

Gimmick, überzeugendes Stilmittel oder überflüssiger Popanz? Die filmischen Mittel rücken immer mal wieder freiwillig und unfreiwillig in den Fokus beim Sichten des Programms des International Film Festival Rotterdam (26. Januar bis 6. Februar), das ausschließlich online stattfand. So auch bei Roberto Doveris PROYECTO FANTASMA (Phantom Project). Hier wird der erfolglose, seinem Ex hinterhertrauernde Pablo (Juan Cano) von einem Geist heimgesucht, der als naive Animation immer mal wieder in Erscheinung tritt – und sich schlussendlich als Beziehungstrauma entpuppt. Eine niedliche Idee, sehr sympathisch und liebevoll umgesetzt, die allerdings eher Kurzfilmgehalt hat. Und auch die zwei abendfüllenden Animationsfilme THE ISLAND von Anca Damian und SILVER BIRD AND RAINBOW FISH von Lei Lei finden nicht zu der für den Langfilm nötigen Spannung und Form – zu mäandernd ist Lei Leis Film, zu sehr zeitgeistigen Ideen hinterherjagend THE ISLAND.

Sich seiner Mittel bewusst und sie gut nutzend: EXCESS WILL SAVE US von Morgane Dziurla-Petit, ein hybrider Dokumentationsfilm, mit dem die Regisseurin mit ihrer echten Familie sowie Schauspieler*innen und in ihrem Heimatort auf dem Land, französische Provinz mit allen denkbaren Klischees nachspielt. Die verrückte Nachbarin, die das Taubenschießen mit einem terroristischen Angriff verwechselt, Bürgermeister-Kandidaturen, Hochzeiten, Mädchen, die in der nächstgrößeren Stadt einen (oh mein Gott!) muslimischen Jungen datet usw. Und zwischendrin die filmende Tochter, deren Arbeit man missversteht und deren Erfolge ins Unermässlichen aufgebläht werden. Mit unglaublicher Verve wirft sich Dziurla-Petits „Familie“ in die ihnen zugeteilten Rollen, lustvoll spielen sie dörflich-dümmlich, charmant, frisch verliebt und erfrischend ehrliche Dorfbewohner*innen. Kein Wunder, dass der Film (der knapper gehalten umso intensiver wirken würde) mit einem Special Jury Award ausgezeichnet wurde.

Kurzfilme auf Diskurshöhe

Das brennende Verlangen, ein Kind zu haben – es wird medial besehen vor allem als weibliches Begehren definiert, obgleich es genügend Männer gibt, die unter ungewollter Kinderlosigkeit leiden. Pedro Neves Marques BECOMING MALE IN THE MIDDLE AGES, der schon für seinen originellen Titel einen Preis verdient hatte und tatsächlich einer der drei Preisträger in der Kategorie Ammodo Short Tiger ist, nimmt sich des Themas an. Und tut dies, indem er eine queere und eine heterosexuelle Perspektive zueinander bringt. Beim Heteropärchen ist er derjenige mit Kinderwunsch, sie probiert es nur für ihn. Auch beim homosexuellen Paar ist es nur einer, der Vater werden will, dafür aber richtig. Er will auch das möglichst körperliche Erlebnis dazu und lässt sich dazu die befruchtete Eizelle kurz in der Körper setzen, wo sie kurzzeitig zumindest ein Gefühl von Schwangerschaft auslösen soll. Im Grunde geht es in beiden Konstellationen – und auch in einer Sequenz, die die Debatte um in-vitro-Fleisch aufgreift – um das menschliche Bedürfnis des Kinder-Bekommens und die (Un)möglichkeit, es mithilfe des technischen Fortschritt zu erfüllen, außerdem um den erweiterten Familienbegriff. BECOMING MALE IN THE MIDDLE AGES ist außerdem wunderbar reduziert und sinnlich fotografiert und konzentriert. Die Überlegung, das queere Partnerschaften viel weniger Anpassungsschwierigkeiten an neue technologische Mittel haben und eher Gewinn aus ihnen ziehen können, hallt nach.

NAZARBAZI © IFFR 2022

Auch Maryam Tafakory ist mit einem berauschenden Kurzfilm zurück, der abermals iranische Tabus und Geschlechterrollen zum Thema hat. Tafakorys NAZARBAZI (was so viel wie „Spiel der Blicke“ bedeutet) ist wie ihre Vorgängerfilme temporeich geschnitten, poetisch und konkret zugleich. Ihr Thema: Die Unmöglichkeit im iranischen Kino Intimität direkt zu zeigen und die vielen durchaus subtil-erotischen Momente, mit denen die Regisseur*innen dieses Verbot annehmen, aber es auch umgehen. Der Found Footage Film ist aber auch eine große Hommage an das iranische Kino überhaupt, zitiert Tafakory doch so viele wichtige iranische Regisseur*innen und Filme.

MK

Asiatisches KINO beim IFFR

Das Festival hat einen guten Draht zum asiatischen und insbesondere indischen Kino. Letztes Jahr konnte man mit PEBBLES von P.S. Vinothraj (Hier geht’s zu unserer Filmkritik) und SETHTHUMAAN (PIG) von Thamizh gleich zwei Meisterwerke entdecken, die dem indischen Autorenfilm eine vielversprechende Zukunft voraussagten. Dieses Jahr waren die Beiträge aus Indien nicht ganz auf der selben Höhe, aber dennoch äußerst bemerkenswert. Darunter war beispielsweise das existentielle Drama CRESCENT NIGHT von Gurvinder Singh, in dem ein Mann nach 15 Jahren Gefängnis zurück in sein Dorf kommt, wo er in der Zwischenzeit seine Stellung innerhalb der Familie verloren hat. Atmosphärisch ist der Film recht eindrücklich, die Bildfindung durchaus anspruchsvoll, doch legt sich über die Geschichte, die lakonisch und nicht wirklich vollumfänglich verständlich ist, eine derart schwere depressive Stimmung, die man kaum aushält. Singh verfilmt hier einen Roman (von Gurdial Singh) und interessiert sich bereits in seinem dritten Film für Themen wie Familie, patriarchalische und hierarchische Strukturen der Gesellschaft und ersetzt den Jugendlichen aus BITTER CHESTNUT, seinem Vorgängerfilm, mit einem erwachsenen Mann, der aber genauso damit ringt, einen Weg zwischen persönlichen Wünschen und dem äußeren Druck von Familie und sozialem Umfeld zu finden.

THE CLOUD MESSENGER © IFFR 2022

Der zweite Beitrag aus Indien THE CLOUD MESSENGER von Rahat Mahajan ist ein wenig abstrakterer Natur. Er erzählt die Geschichte einer Reinkarnation. Liebende aus einem fernen Jahrhundert finden sich in der Gegenwart in den Körpern und Seelen zweier Internatsschüler wieder. Dieses besondere Band, das die beiden verbindet, inszeniert der Film, indem er mit allen Mitteln versucht, eine übersinnliche Stimmung zu schaffen. Dazu gehören die dunklen Rot- und Brauntöne, die die Bilder prägen, deren gedämpfte Ausleuchtung und vor allem die verwendete bedeutungsschwangere Musik. Das Resultat ist nicht ohne Reiz, insbesondere der erste Teil des Films, in dem indische Götter farbenfroh gekleidet und geschminkt ein Tantra singen. Doch seine zweieinhalbstündige Gesamtdauer verursacht einige Längen, da die Handlung insgesamt dafür doch zu dünn ist.

Eine wesentlich leichtfüßigere Geschichte stammte aus Hongkong. BARBARIAN INVASION von Chui Mui Tan spielt mit verschiedenen Ebenen von Fiktion. Im Mittelpunkt steht eine Schauspielerin, die einst sehr beliebt war im Hongkongkino, doch durch die ungesunde Ehe mit einem anderen Filmstars, immer mehr abgedrängt wurde. Ein mit ihr befreundeter Regisseur möchte sie aber für seinen neuen Film. In der Zwischenzeit hat sie sich von ihrem Mann getrennt. Ihren Sohn nimmt sie zu den Vorbereitungen für den Film mit, die vor allem darin bestehen, dass sie sich in Kampfkunst trainieren lässt. Der Film hat also einen Film im Film, was ziemlich geschickt umgesetzt wird, doch dann kommen noch mindest zwei weitere Fiktionsbrüche dazu, die nicht vollständig logisch erscheinen, doch die Geschichte dynamisieren und ihr einen originellen Einschlag geben. Über den Unterhaltungswert und der formalen Spielerei hinaus, spricht der Film im übrigen durchaus relevante Themen wie Gewalt gegen Frauen, Machtverhältnisse innerhalb einer Ehe und die Bedeutung von Alter im Filmgeschäft.

Zu den Höhepunkten des diesjährigen Festivalprogramms gehören zwei Titel aus Südkorea. Auch hier beweist Rotterdam meist ein gutes Händchen. Zuletzt erlaubte das Festival beispielsweise die Entdeckung des intimen Gesellschaftsdrama MOVING ON von Yoon Dan-bi, in dem ein Vater mit seinen zwei Kindern ins Haus des Großvaters zieht, weil er sich nach der Scheidung nichts anderes leisten kann. Diese Verbindung zwischen drei Generationen, das Verantwortungsbewusstsein der älteren Teenager-Tochter und die gesellschaftlichen Auswirkungen der zerrütteten Familienverhältnisse inszeniert die südkoreanische Regisseurin in ihrem Spielfilmdebüt sensibel und auf äußerst anrührende Weise. Dieses Jahr folgte mit DROWN von Lim Sang-su ebenfalls ein Film, in dem es um soziale Bindungen, Familienverhältnisse und Außenseitertum geht. Der Protagonist ist ein mittelaltriger Mann, der das ziemlich heruntergekommene Motel seiner Eltern leitet. Gleichzeitig kümmert er sich um seine demenzkranke Mutter. Er ist ein wortkarger, scheuer Mensch, der sich regelmäßig von anderen die Füße auf den Kopf stellen lässt, man hat Mitleid mit ihm. Doch gibt das Drehbuch nach und nach Hinweise darauf, dass er vielleicht auch eine andere Seite hat. Mehr und mehr verwandelt sich der Film von einer genauen Gesellschaftsstudie in einen Thriller, der einen guten Rhythmus hat, dicht inszeniert ist und herausragend gespielt wird. Alleinig der Schluss kommt etwas abrupt und fällt in der Dichte vom Rest ab.

Auf ganze Linie konnte schließlich KIM MIN YOUNG OF THE REPORT CARD von Lee Jae-eun und Lim Jisun überzeugen. Es handelt sich um den Erstlingsfilm der beiden südkoreanischen Regisseurinnen. Im Zentrum steht eine junge Frau, die ihre Universitätsaufnahmeprüfungen nicht bestanden hat und sich deswegen eine Stelle suchen muss. Diese findet sie, nur mit einiger Mühe, als Aushilfe bei einem Tennisplatz, doch das ist leider nur von kurzer Dauer, denn der Betreiber muss angeblich sparen und setzt stattdessen den eigenen Sohn ein. Die Freundschaft zu ihren beiden ehemaligen Schulkolleginnen, mit denen sie zusammengewohnt hat und einen Poesieclub betrieb, löst sich immer mehr auf, weil sich der Alltag der drei mit anderen Dingen gefüllt hat. Zum endgültigen Bruch kommt es als die Protagonistin übers Wochenende eine der Freundinnen besucht, diese aber nur am Computer hängt und irgendwann für die restliche Zeit ganz verschwindet. Fantasievoll, unsentimental, mit viel feinem Humor und einer souveränen künstlerischen Form erzählt der Film von Situationen, die vielen bekannt kommen werden. Die leitenden Themen sind Freundschaft, die Suche nach der eigenen Identität und Stellung in der Gesellschaft sowie einfach ganz allgemein das Erwachsenwerden.

TV

Das Internationale Film Festival Rotterdam fand vom 26. Januar bis 6. Februar 2022, online statt.