Oscarverleihung 2024 – eine Prognose, Teil #4


OPPENHEIMER, Robert Downey Jr. © Universal Pictures. All Rights Reserved.
OPPENHEIMER, Robert Downey Jr. © Universal Pictures. All Rights Reserved.

Schauspieler

Am Sonntag werden in Los Angeles zum 96. Mal die Oscars verliehen. Nachdem es in Teil #1 um die Kurzfilme, die Dokumentarfilme und die Animierten Spielfilme, in Teil #2 um die technischen Awards und in Teil #3 um Regie, Drehbücher und Internationale Filme ging, stehen diesmal die Schauspieler im Fokus. Zehn der Zwanzig Nominierten sind zum ersten mal dabei und drei davon könnten auf Anhieb gewinnen. Die wichtigsten Precursor sind hier die Preise der British Filmacademy (BAFTA) und der Screen Actors Guild Award (SAG)

Nebendarsteller

Wird gewinnen: Robert Downey Jr., der als Lewis Strauss in OPPENHEIMER der Gegenspieler des Titelhelden ist. Einem Salieri gleich intrigiert Strauss aus verletztem Stolz gegen Oppenheimer, lässt ihn aus der Atomenergiebehörde entfernen und stolpert später selbst über sein Verhalten. Downey Jr. spielt Strauss als aalglatten Machtmenschen, der nicht ertragen kann, dass ihm jemand intellektuell deutlich überlegen ist, der sich aber auf dem politischen Parkett sicherer bewegt als der Wissenschaftler mit seinen idealistischen Vorstellungen.
Downey Jr. blickt auf eine abwechslungsreiche Karriere zurück. In den späten 1980ern galt er als das größte Talent unter den jungen Wilden und erspielte sich 1992 mit der Titelrolle in CHAPLIN die erste Oscarnominierung. Es folgte der krasse Absturz in den Drogenexzess. Erst nach der Jahrtausendwende gelang das Comeback, 2008 die zweite Oscarnominierung für TROPIC THUNDER und im selben Jahr mit seiner Rolle als IRON MAN der Aufstieg zum zeitweise bestbezahlten Schauspieler Hollywoods auf. Nach zehn Jahren im MCU scheint sich Downey Jr. jetzt wieder ernsthafteren Rollen zuzuwenden. Und Hollywood? Liebt ihn immer noch. Trotz starker Konkurrenz hat Robert Downey Jr. mit OPPENHEIMER alle wichtigen Preise für Nebendarsteller gewonnen, auch Golden Globe, CCA, BAFTA und SAG. Jetzt kommt noch der Oscar dazu.
Sollte gewinnen: Ryan Gosling als Ken in BARBIE. Blondiert und mit Sixpack gibt Gosling den etwas unterbelichteten Freund von Stereotypical Barbie, himmelt sie an, möchte immer in ihrer Nähe sein, definiert sich über sie. Aber was soll er auch machen? Er ist halt Ken. Auf ihrem gemeinsamen Trip in die Realität lernt er das für ihn fremde, ihn aber sofort faszinierende Konzept des Patriarchats kennen. Zurück in Barbieland entfacht er eine maskuline Revolution. Ryan Gosling im Comedy Modus ist immer noch am besten. In BARBIE ist er der klassische Scene Stealer. Sein Ken ist einerseits urkomisch. Zugleich handelt er aus verletztem Stolz und dem Gefühl der Zurückweisung. Ken ist der personifizierte Backlash in einer durchfeminisierten Welt.
Nach zwei Nominierungen als Hauptdarsteller in HALF NELSON (2007) und LA LA LAND (2016) ist BARBIE Goslings dritte Chance auf einen Oscar. Er war ihm noch nie so nah und hat doch keine Chance.
Außerdem nominiert: Sterling K. Brown als Clifford Ellison in AMERICAN FICTION. Clifford ist der selbstbezogene Bruder der Hauptfigur Monk, ein frisch geschiedener Mann, der jetzt seine jahrzehntelang unterdrückte Homosexualität in vollen Zügen auslebt. Browns Performance steht in starkem Kontrast zu Jeffrey Wrights kontrolliertem Auftritt als Monk. Er hat aber auch eine emotionale Szene, in der er seine Trauer über die verpassten Chancen im Leben zeigt. Das wird für einen Oscar noch nicht reichen, aber Brown hat jetzt seinen Fuß in der Tür. Es wird nicht seine letzte Nominierung bleiben.
Robert De Niro ist der Veteran in der Runde und der Einzige, der den Oscar schon gewonnen hat. Er spielt in KILLERS OF THE FLOWER MOON den sinistren Viehbaron William Hale, der sich als jovialer Geschäftsmann und besorgter Freund der Osage gibt und hinterrücks ihre Ermordung plant und anordnet. William Hale ist De Niros beste Performance seit 30 Jahren. Dafür ist er zum achten Mal für einen Oscar nominiert. Er gewann 1974 als Nebendarsteller in THE GODFATHER PART TWO und 1980 als Hauptdarsteller in RAGING BULL.
Mark Ruffalo – der andere Ken – gibt den schmieriger Lebemann Duncan Wedderburn, der in POOR THINGS die aufblühende Sexualität Bella Baxters erkennt und mit ihr nach Portugal durchbrennt, wo sie gemeinsam das von ihr so genannte „furious jumping“ zelebrieren. Doch auch der erfahrenste Liebhaber stößt irgendwann an seine Grenzen. Als sie das Interesse an ihm zu verlieren beginnt, verliebt er sich und verzweifelt, als sie sich neuen Ufern zuwendet. Ruffalo, der bisher für drei eher ernste Rollen nominiert war – THE KIDS ARE ALL RIGHT (2010), FOXCATCHER (2014) und SPOTLIGHT (2015) – ist hier so lustig wie nie. POOR THINGS ist seine bislang beste Performance.
Eine Anmerkung sei noch gestattet. Mit Robert Downey Jr. (Iron Man) und Mark Ruffalo (Hulk) treten hier zwei ehemalige Avengers gegeneinander an und wie in AGE OF ULTRON wird Downey Jr. gewinnen.

Eine Besprechung zu OPPENHEIMER findet ihr hier.

Da’Vine Joy Randolph in THE HOLDOVERS; Credit: Seacia Pavao / © 2023 FOCUS FEATURES LLC
Da’Vine Joy Randolph in THE HOLDOVERS; Credit: Seacia Pavao / © 2023 FOCUS FEATURES LLC

Nebendarstellerin

Wird gewinnen: Da’Vine Joy Randolph als Mary Lamb in THE HOLDOVERS. Mary arbeitet als Chefköchin in der Privatschule Barton Academy und verbringt dort, wie die von Paul Giamatti und Dominic Sessa gespielten Hauptfiguren, das Weihnachtsfest 1970. Während sich die beiden Herren einen Kleinkrieg leisten, muss Mary den Verlust ihres einzigen, in Vietnam gefallenen Sohnes verarbeiten. Randolph, deren Karriere mit Broadway Musicals begann und die für ihr komisches Talent berühmt ist, bringt in THE HOLDOVERS die nötige Portion Wärme ein, um die beiden Streithähne wieder auf den Boden zu ziehen. Es ist eine wunderbare, von Trauer durchzogene Performance, die in dieser Award Season auf große Resonanz stieß. Zählt man alle Kritikerpreise und Precursor Awards zusammen, hat Da’Vine Joy Randolph für ihren Auftritt in THE HOLDOVERS mehr Preise erhalten als jeder andere Schauspielerin vor ihr, natürlich auch Golden Globe, CCA, BAFTA und SAG. Sie ist nicht nur die Front Runnerin in ihrer Kategorie. Sie wird diesen Oscar gewinnen.
Sollte gewinnen: Sandra Hüller für THE ZONE OF INTEREST – aber die ist leider nicht nominiert.
Außerdem nominiert: Emily Blunt als Kitty Oppenheimer in OPPENHEIMER. Kitty ist selbst eine begabte Wissenschaftlerin, als sie ihren späteren Mann kennenlernt. Schnell wird geheiratet und das erste Kind ist da. Doch mit der neuen Rolle als Ehefrau und Mutter kommt Kitty nicht klar. Ihrer eigenen Karriereträume beraubt, ertränkt sie ihren Frust im Alkohol. Erst spät im Film, als man Robert und ihr frühere Sympathien für den Kommunismus vorwirft, zeigt sie ihre kämpferische Natur. Es hat lange gedauert. Seit THE DEVIL WEARS PRADA (2006) wurde Emily Blunt immer mal wieder als Oscarkandidatin gehandelt. Doch ist OPPENHEIMER tatsächlich ihre erste Nominierung. Es wird gewiss nicht die letzte sein.
Danielle Brooks trägt als Sofia in der Musical Neuverfilmung von THE COLOR PURPLE ihr Herz auf der Zunge. Es ist eine laute, selbstbewusste und witzige Performance. Doch dann muss Sofia unschuldig ins Gefängnis und Brooks verschwindet für lange Zeit aus dem Film, um am Ende als gebrochene Person zurückzukehren. Für den ORANGE IS THE NEW BLACK-Star ist THE COLOR PURPLE die erste Ocarnominierung. Mögen viele weitere folgen.
America Ferrera bringt als Gloria eine gute Portion Normalität in BARBIE ein. Als alleinerziehende Mutter einer pubertierenden Tochter verschlägt es sie nach Barbieland, wo sie den vom aufziehenden Kendom unterdrückten Barbies wieder auf die Beine hilft. Über weite Strecken ist das eine gute, aber nicht herausragende Performance. Doch dann bekommt Ferrera ihre Szene: die Ansprache! Es ist der Moment, in dem BARBIE (der Film, nicht die Figuren) die vierte Wand durchbricht und sich direkt ans Publikum wendet und allen, die es bis dahin noch nicht verstanden haben, die feministische Dialektik des Films auf dem Tablett serviert. Das mag wenig subtil sein, aber es funktioniert. Es hat schon Schauspieler*innen gegeben, die für weniger einen Oscar erhalten haben. Manchmal – siehe Beatrice Straight in NETWORK (1976) – ist eine gute Szene genug. BARBIE ist America Ferreras erste Oscarnominierung.
Jodie Foster ist die Veteranin in dieser Gruppe. Sie war erstmals 1976 für TAXI DRIVER nominiert und gewann zwei Oscars als Hauptdarstellerin, für ACCUSED (1988) und THE SILENCE OF THE LAMBS (1991). Fast 30 Jahre nach ihrer letzten Nominierung für NELL (1994) ist sie erneut im Rennen. Im Netflix Drama NYAD gibt Foster die beste Freundin der Titelfigur. Bonnie Stoll ist nicht auf den Mund gefallen und weiß mit der exzentrischen Diana Nyad umzugehen. Die beiden sind sich in tiefer Freundschaft verbunden und Stoll lässt sich von Nyad überreden, sie bei ihrem wahnwitzigen Unterfangen, von Kuba nach Florida zu schwimmen, zu coachen. Eigentlich handelt es sich bei dieser Performance um eine Co-lead. Foster bekommt mit einer Stunde Screentime fast genauso viel Zeit im Film wie Hautdarstellerin Bening. Sie liefert von Beiden auch die bessere Performance, hat aber auch die sympathischere Rolle.

Eine Besprechung zu BARBIE findet ihr hier.

Hauptdarsteller

Wird gewinnen: Cillian Murphy als J. Robert Oppenheimer in OPPENHEIMER. Murphy trägt diesen gewaltigen Film mühelos auf seinen Schultern. Die Performance verlangt viel von ihm, denn Oppenheimer ist kein einfacher Charakter. Ein brillanter Wissenschaftler, einer der klügsten Menschen seiner Zeit, der in Gesprächen immer schon ein paar Schritte weiter denkt und dabei den großen Plan nie aus dem Kopf verliert. Als sich die Möglichkeit ergibt, das bis dahin größte Experiment der Menschheitsgeschichte durchzuführen, greift er beherzt zu, auch weil er um die Dringlichkeit der Aufgabe weiß. Doch sein größter Triumph ist zugleich eine moralische Niederlage, die in bis an sein Lebensende verfolgt. Dieses überlebensgroße Drama spielt Murphy, ohne dick auftragen zu müssen. Es ist eine internalisierte, oftmals eher stille Performance, die genau daraus ihre Intensität zieht. Murphy ist als Oppenheimer eine Idealbesetzung. Es scheint, als habe er sein ganzes Leben, seine ganze Karriere auf diesen Moment gewartet und hingearbeitet. Seit 1997 im Geschäft, hatte Murphy vor 20 Jahren in 28 DAYS LATER seinen ersten bekannteren Auftritt. Es folgten Hauptrollen in BREAKFAST ON PLUTO (2005) oder THE WIND THAT SHAKES THE BARLEY (2006) und immer wieder kleinere Rollen in den Filmen Christopher Nolans. OPPENHEIMER ist bereits ihre sechste Zusammenarbeit. Noch größere Bekanntheit erlangte Murphy zuvor aber mit seiner Rolle in der britischen Gangsterserie PEAKY BLINDERS. Mit OPPENHEIMER ist er zum ersten mal für den Oscar nominiert. Golden Globe (Drama), BAFTA und SAG sollten den Sack zumachen. Cillian Murphy wird diesen Oscar mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gewinnen.
Sollte gewinnen: der Einzige, der Murphy noch in die Quere kommen könnte, ist Paul Giamatti, der als in die Jahre gekommener, unbeliebter, weil pedantischer Lehrer Paul Hunham in THE HOLDOVERS genau das liefert, was man als eine klassische Oscar Performance bezeichnen könnte. Er ist laut, er macht Gesichter, er kann cholerisch sein. Und doch ist dieser Paul Hunham keine Parodie, denn in ihm schlummert ein verletzter und verunsicherter Mann, der sich zum Schutz einen Panzer aus Prinzipientreue zugelegt hat, den zu brechen es eines widerspenstigen Schülers bedarf, auf den Hunham über die Feiertage aufpassen muss. Auch die Gespräche mit der trauernden Köchin Mary (Randolph) lassen das unter vielen strengen Regeln und akademischen Wissen vergrabene Menschliche wieder hervortreten. Am Ende dieser Weihnachtsferien wird Hunham ein anderer Mensch sein. Die Academy liebt solche Rollen und es würde mich nicht wundern, sollte sie im letzten Moment doch noch auf Giamatti umschwenken. Er hätte es durchaus verdient. Giamatti ist seit über dreißig Jahren im Geschäft. Legendär ist seine Nichtnominierung für SIDEWAYS (2004), als er schon als sicherer Oscargewinner galt. Ein Jahr später gab es dann eine Nominierung als Nebendarsteller in CINDERELLA MAN. Nun ist er fast zwanzig Jahre nach SIDEWAYS erneut mit Regisseur Alexander Payne vereint und auch diesmal galt er als starker Oscaranwärter. Mit CCA und Golden Globe (Comedy or Musical) startete er ähnlich gut wie Murphy in die Saison, doch dann gewann nur noch Murphy. Ich würde Giamatti nicht komplett abschreiben, aber es ist doch sehr unwahrscheinlich, dass er jetzt noch an Murphy vorbeizieht.
Außerdem nominiert: Bradley Cooper als Leonard Bernstein in MAESTRO. Diese Performance klang von Anfang an nach Oscarbait, als wolle da jemand unbedingt den Oscar gewinnen. Historische Persönlichkeit, Musikerbiographie, transformative Performance – eigentlich alles was man braucht, um nach vier Schauspielnominierungen (und zwölf Nominierungen insgesamt) endlich den Goldjungen in den Händen halten zu können. Nope. In diesem Jahr wird es wieder nichts. Dabei ist Coopers Auftritt in MAESTRO wirklich sehr gut. Er ist charismatisch. Er beherrscht den Akzent. Meine Güte, er hat sechs Jahre lang das Dirigieren eines Orchesters einstudiert. War vielleicht doch ein bisschen zu viel des Guten. Vielleicht beim nächsten Mal.
Colman Domingo spielt mit Bayard Rustin in RUSTIN einen außerhalb der afroamerikanischen Community etwas in Vergessenheit geratenen Aktivisten, dessen Organisationstalent und Einsatz für gewaltfreien Widerstand wesentlich zum Erfolg der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren beitrug. Er war u.a. der Cheforganisator des Marsches auf Washington, der mit der berühmten „I have a dream“-Rede von Martin Luther King seinen Höhepunkt erreichte. Rustins Bedeutung für den Kampf wurde aber selbst von schwarzen Politikern immer wieder heruntergespielt, weil man fürchtete, dass sich seine offen homosexuelle Lebensweise negativ auf die Kampagne auswirken könnte. Domingo gibt Rustin eine streitbare, aber unbestreitbar charismatische Persönlichkeit. Es ist eine große Performance in einem leider nur durchschnittlichen Film. Colman ist zum ersten mal nominiert.
Jeffrey Wright spielt in AMERICAN FICTION Monk, einen erfolglosen afroamerikanischen Schriftsteller, der sich aus Frust über afroamerikanische Bestseller, die rassistische Klischees bedienen, einen Scherz erlaubt, der bald ein unerwartetes Eigenleben entwickelt. Es ist eine tragikomische Performance, die leisere, subtilere Töne anschlägt. Auch Wright ist zum ersten mal nominiert.

Eine Besprechung zu MAESTRO findet ihr hier.

KILLERS OF THE FLOWER MOON © Apple TV+
Lily Gladstone in KILLERS OF THE FLOWER MOON © Apple TV+

Hauptdarstellerin

Wird gewinnen: Lily Gladstone als Mollie Burkhart in KILLERS OF THE FLOWER MOON, eine junge indigene Frau, die einen schlichten, aber gut aussehenden Weißen heiratet, dessen Onkel die Ermordung ihrer Familie plant. Auch wenn sie ahnt, dass ihr Mann es eher auf ihr Vermögen abgesehen hat, verliebt sie sich in ihn und hält auch dann noch zu ihm, als sich das Ausmaß des Verbrechens, in das er verstrickt ist, offenbart. Die bittere Enttäuschung auf ihrem Gesicht, als ihr klar wird, dass er auch ihren Tod herbeiführen wollte, zerreisst einem das Herz. Überhaupt dieses Gesicht, auf dem sich mit winzigen Regungen, emotionale Zustände erahnen lassen, ist eine Entdeckung. Aber was heißt Entdeckung? Schon vor acht Jahren begeisterte Gladstone in Kelly Reichardts CERTAIN WOMEN. Einem breiteren Publikum dürfte sie aber erst mit KILLERS OF THE FLOWER MOON bekannt geworden sein. Es ist eine bemerkenswerte Performance. Trotz vergleichsweise geringer Screentime ist Gladstone das emotionale Zentrum des Films, sein Herz und seine Seele. Sie wird vermisst, wenn sie nicht im Bild ist. Lily Gladstone gehört zum Volk der Blackfeet. Sie ist die erste indigene Amerikanerin, die für diesen Oscar nominiert ist und sollte sie gewinnen, würde die Academy einmal mehr Geschichte schreiben. Nach all den Jahrzehnten, in denen der amerikanische Western die indigenen Ureinwohner Amerikas als Wilde, die man über den Haufen schießen kann, zeigte, hätte ein Triumph Gladstones natürlich eine große emotionale Kraft. Neben dem Golden Globe (Drama) konnte sie aber nur einen weiteren Precursor gewinnen, allerdings einen ganz großen, den größten, den SAG Award. Schauspieler stellen immer noch die größte Gruppe in der Academy und wenn die sich hinter Gladstone stellen, wird es schwer, sie noch zu schlagen.
Allerdings hat Emma Stone als Bella Baxter in POOR THINGS auch gute Argumente auf ihrer Seite. Sie gewann neben Golden Globe (Comedy or Musical) und CCA auch den BAFTA, also den british voting block. Im Unterschied zu Gladstone, die auch als Nebendarstellerin hätte nominiert werden können, dominiert Stone POOR THINGS. Bella Baxter ist unstrittig eine Hauptrolle. Und was für eine? Zu Beginn des Films benimmt sich Bella, der das Gehirn eines Babys eingepflanzt wurde, noch wie ein Kleinkind, das die Welt mit tapsigen Gang erkundet, Wörter falsch ausspricht oder ihren Emotionen freien Lauf lässt. Doch mit Fortschreiten des Films beginnt sie immer mehr Dinge zu verstehen und Zusammenhänge zu begreifen. Eines Tages entdeckt Bella, die im Körper einer 30jährigen lebt, ihre voll funktionsfähigen Geschlechtsorgane und die Freude, die sie ihr bereiten. Emma Stone spielt Bella unerschrocken und mit großem körperlichem Engagement. Es ist ein mutiger Auftritt, der auch ganz leicht hätte schief gehen können. Doch wir folgen Bella auf ihrer wundersamen Reise zu sich selbst und zu ihrer Befreiung, ohne peinlich berührt zu sein. Emma Stone ist zum vierten mal nominiert, zum zweiten mal für einen Yorgos Lanthimos Film. 2016 gewann sie den Oscar als Hauptdarstellerin in LA LA LAND. Mit Bella Baxter hat Stone einen einzigartigen Charakter geschaffen. Es ist ihre bislang beste Performance und es ist vielleicht auch die beste Performance unter den fünf Nominierten. Allerdings gibt es in der Frage noch Eine, die das auch für sich beanspruchen könnte, denn…
Sollte gewinnen:…. Sandra Hüller gibt als Sandra Voyter in ANATOMIE EINES FALLS ebenfalls eine Performance der Extraklasse ab. Sandra ist eine erfolgreiche Schriftstellerin, die unter den Verdacht gerät, ihren Mann ermordet zu haben. Die Indizien scheinen gegen sie zu sprechen, doch Sandra versteht es, Zweifel an ihrer Schuld zu säen. Im Fokus des Films steht schon bald das schwierige Verhältnis zu ihrem Mann und die Beziehung zum gemeinsamen Sohn. Nach und nach enthüllt sich Sandras vielschichtiger, selbstbewusster, aber auch manipulativer Charakter. Die Thüringerin Sandra Hüller begeisterte erstmals 2006, als sie für das Exorzismusdrama REQUIEM den Silbernen Bären bei der Berlinale gewann. Zehn Jahre später wurde sie in Cannes für ihre Rolle in TONI ERDMANN gefeiert. Schon damals wurde über eine mögliche Oscarnominierung spekuliert. In diesem Jahr sorgte sie wieder in Cannes für Furore mit zentralen Rollen in den beiden wichtigsten Filmen des Festivals: THE ZONE OF INTEREST und ANATOMIE EINES FALLS. Diesmal hat es für die Nominierung gereicht und auch wenn ihre Chance, zu gewinnen angesichts des Duells Gladstone vs. Stone eher gering ist, könnte sie mit etwas Glück noch an den Beiden vorbeiziehen, sollten sich Stone und Gladstone gegenseitig genügend Stimmen abnehmen. Ich würde nicht darauf wetten, aber sollte der Oscar am Ende an Sandra Hüller gehen, wäre das absolut verdient.
Außerdem nominiert: Annette Bening als Diana Nyad in NYAD. Bening spielt eine frühere Langstreckenschwimmerin, die beschließt jenseits der 60 nochmal ein großes Wagnis einzugehen und von Kuba nach Florida zu schwimmen. Etwas das vorher noch niemandem gelungen ist. Die verschiedenen Winde und Meeresströmungen, aber auch Haie und gefährliche Quallen machen die Passage eigentlich unmöglich, doch Diana wird von einem kompetenten und engagierten Team und vor allem von ihrer engen Freundin Bonnie Stoll (Foster) unterstützt. Die echte Diana Nyad ist eine exzentrische Persönlichkeit und gilt als schwierig im Umgang. Bening hat offensichtlich große Freude daran, in ihrer Rolle Leute vor den Kopf zu stoßen, keine Ausreden zu akzeptieren und unablässig für ihren großen Traum zu kämpfen und dafür auch physisch an ihre Grenzen zu gehen. Man muss diese Diana Nyad nicht lieben, aber den Respekt vor ihrer Leistung hat sie sich schon verdient. Für Annette Bening ist dies nach GRIFTERS (1990), AMERICAN BEAUTY (1999), BEING JULIA (2004) und THE KIDS ARE ALL RIGHT (2010) die fünfte Nominierung. Auf den Oscar wird sie aber wohl noch etwas warten müssen.
Auch die Britin Carey Mulligan ist nicht zum ersten mal dabei. In MAESTRO spielt sie die chilenische Schauspielerin Felicia Montealegre, die Ehefrau und Seelenverwandte Leonard Bernsteins. Die Ehe scheitert u.a. an Leonards homosexueller Neigung, doch bleiben die beiden bis zu Felicias Krebstod eng verbunden. Mulligan gibt Felicia zunächst als lebenslustige junge Frau, die ihre Karriere der ihres Mannes opfert. Später stehen ihr Verzweiflung und Unglück, aber auch Tapferkeit ins Gesicht geschrieben. In seiner zweiten Hälfte widmet sich MAESTRO stärker Felicia zu. Das ist der Teil, in dem ihre Performance stärker berührt. In einem anderen Jahrgang wäre Mulligan mit diesem Auftritt eine sichere Oscarkandidatin gewesen. Nun wird sie sich nach AN EDUCATION (2009) und PROMISING YOUNG WOMAN (2020) mit einer weiteren Nominierung begnügen müssen.

Eine Besprechung zu KILLERS OF THE FLOWER MOON findet ihr hier.

Thomas Heil schaut seit 1992 die Oscars – und stellt jedes Jahr seine Favoriten zusammen. Seine Lieblingsfilme haben es oft nicht auf die Liste geschafft, aber darum geht es ja auch nicht, denn Film ist Kunst und kein Wettbewerb, wie man auch über Sinn und Unsinn solcher Preisverleihungen streiten kann. Nur soviel: man sollte sie gewiss nicht zu ernst nehmen.

In Teil 5 wird es um den Award für den Besten Film gehen.