Oscarverleihung 2024 – eine Prognose, Teil #5


OPPENHEIMER © Universal Pictuers. All Rights Reserved
OPPENHEIMER © Universal Pictuers. All Rights Reserved

Bester Film

In wenigen Stunden werden in Los Angeles zum 96. Mal die Oscars verliehen. Nachdem es in Teil #1 um die Kurzfilme, die Dokumentarfilme und die Animierten Spielfilme, in Teil #2 um die technischen Awards, in Teil #3 um Regie, Drehbücher und Internationale Filme und in Teil #4 um die Schauspieler ging, kommen wir nun zu The Big One, dem Hauptpreis – dem Academy Award für den Besten Film. Und wie jedes Jahr stellt sich die Frage, wird die Academy die richtige Wahl treffen und im Idealfall einen Film auszeichnen, der auch in vielen Jahren noch den Test der Zeit bestehen wird. Sie ist in dieser Hinsicht nicht immer erfolgreich gewesen, hat aber in den letzten zehn Jahren häufiger eine gute Wahl getroffen, als komplett daneben zu liegen. Steigen wir also ein in die letzte Runde dieser Oscarprognose. Soviel kann man schonmal sagen, das diesjährige Line Up kann sich sehen lassen. Es gehört zu den besten der vergangenen Jahre.

Bester Film

Wird gewinnen: OPPENHEIMER. Seit seinem Kinostart im Sommer als ein Teil des globalen Kinophänomens BARBENHEIMER wurde Christopher Nolans Film über die Erfindung und den Erfinder der Atombombe als potentieller Best Picture-Kandidat gehandelt. Am Ende einer zunehmend spannungsärmeren Award Season steht er mehr oder weniger als Gewinner fest. Für welchen Preis OPPENHEIMER auch immer in den letzten Wochen als Bester Film nominiert war, er gewann ihn. Golden Globe, CCA, DGA, PGA, BAFTA oder SAG (in dem Fall als bestes Ensemble). Das ist ein Ergebnis mit dem die Industrie, die internationale Kritik und vor allem auch das Publikum zufrieden sein sollte.
OPPENHEIMER ist kein Cradle to the grave-Biopic, er folgt seinem Titelhelden aber über einen Zeitraum von gut 30 Jahren. Wir sehen J. Robert Oppenheimer als jungen Studenten der Quantenmechanik, der sich von den Koryphäen seiner Zeit inspirieren lässt. Er trifft Niels Bohr und Werner Heisenberg und geht zur weiteren Forschung nach Berkeley. Als ihm die Leitung des Manhattan-Projekts, die streng geheime Entwicklung einer amerikanischen Atombombe, angetragen wird, gilt er schon als einer der brillantesten Köpfe seiner Zeit. Das Projekt und der finale Trinity Test, die Zündung der ersten Atombombe im Sommer 1945, bilden den Mittelteil des Films. Jahre später gilt Oppenheimer, der seit dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki von Gewissensbissen geplagt wird, aufgrund seiner pazifistischen Haltung und seinem Einsatz für Abrüstung als unzuverlässig in Sicherheitsfragen. Auch seine früheren Sympathien für die Kommunisten und eine Affäre mit der Kommunistin Jean Tatlock werden ihm zur Last gelegt. Letztlich wird ihm aber vor allem auf Betreiben des in seiner Eitelkeit gekränkten Vorsitzenden der amerikanischen Atomenergiebehörde, Lewis Strauss, die Sicherheitsfreigabe entzogen, verliert er seine Beratertätigkeit für die US-Regierung. Später wird Strauss genau dies zur Last gelegt. Regisseur und Drehbuchautor Christopher Nolan hat den Film als eliptische Erzählung angelegt, in der die beiden Befragungen, das Hearing zur Sicherheitsfreigabe für Oppenheimer und die Anhörung von Strauss vor dem US-Kongress anlässlich dessen Berufung zum Minister, gegeneinander geschnitten werden. Von dieser Grundstruktur ausgehend werden die wichtigsten Jahre in Oppenheimers Laufbahn einschließlich des Manhattan-Projekts erzählt. Der Film springt zwischen den verschiedenen Zeit- und Erzählebenen und ermöglicht so ein komplexes, vielschichtiges Porträt seines Helden.
Alles an diesem Film ist auf höchstem Niveau. Der erzählerische Ansatz, die Charakterstudien (mit leichten Abstrichen bei dem weiblichen Personal – nach wie vor ein Schwachpunkt aller Nolan Drehbücher) und die visuelle Gestaltung sowieso. Kaum ein Regisseur unserer Tage ist noch in der Lage, in derart monumentalen Dimensionen zu denken, geschweige denn einen Film auf diesem Niveau zu realisieren. Es würde auch kaum einer soviel Geld dafür bekommen und gleichzeitig die totale Kontrolle über alle künstlerischen Entscheidungen behalten. Dies ist eben ein Christopher Nolan-Film. Er hat lange für dieses Standing gearbeitet und hat jetzt eine Position erreicht, die eigentlich nur mit der David Leans in den 1950er und 1960er Jahren vergleichbar ist.
Die einzige Frage, die sich jetzt noch stellt, ist, wie viele Oscars OPPENHEIMER am Ende gewinnen wird.
OPPENHEIMER ist für 13 Oscars nominiert: Film, Regie, Drehbuch, Hauptdarsteller, Nebendarstellerin, Nebendarsteller, Kamera, Schnitt, Production Design, Kostüme, MakeUp, Ton und Score.

Eine Besprechung zu OPPENHEIMER findet ihr hier.

Sollte gewinnen: THE ZONE OF INTEREST. Dass dieser Film hier überhaupt nominiert ist, zeigt den zunehmenden Einfluss der vielen neuen und internationalen Mitglieder, die von der Academy nach den Skandalen um #oscarsowhite und #metoo aufgenommen wurden. Die Academy hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verjüngt und deutlich internationaler aufgestellt. Ein Film wie THE ZONE OF INTEREST mit seinem radikalen künstlerischen Ansatz, seiner spröden, nicht auf Sensationen angelegten Erzählung und seiner kühlen, beinahe klinischen visuellen Gestaltung, spricht traditionell eher ein europäisches Publikum an. Und doch sitzt er jetzt hier, zwischen all den großen Hollywoodproduktionen als eine faszinierende Erinnerung daran, was man mit dem Medium Kino noch so machen kann.
THE ZONE OF INTEREST stößt direkt ins Herz der Finsternis und zeigt uns das Privatleben eines der schrecklichsten Menschen des 20. Jahrhunderts. Rudolf Höß, Organisator und Lagerkommandant des Vernichtungslagers Auschwitz, hat für sich und seine Familie ein schönes Haus samt Garten direkt neben dem Lager einrichten lassen. Gattin Hedwig kümmert sich um das Heim und die fünf Kinder, während Rudolf seinem mörderischen Geschäft nachgehen kann. Man muss diesen Film im Kino erlebt haben. Nichts bereitet Einen auf die immersive Qualität von Jonathan Glazers Meisterwerk vor. Während die Bildebene konsequent bei der Familie Höß bleibt und die Verbrechen im Lager visuell ausspart, entfaltet sich auf der Tonebene das pure Grauen.
Nach IM WESTEN NICHTS NEUES im vergangenen Jahr ist THE ZONE OF INTEREST der zweite deutschsprachige Film, der für den wichtigsten Oscar nominiert ist. Er wird ihn nicht gewinnen, aber allein die Nominierung ist in diesem Fall schon die Auszeichnung. THE ZONE OF INTEREST ist in fünf Kategorien nominiert: Film, Regie, Drehbuch, Ton und Internationaler Film.

Eine Besprechung zu THE ZONE OF INTEREST findet ihr hier.

Außerdem nominiert: AMERICAN FICTION, in dem der schwarze Schriftsteller und Uniprofessor Monk daran verzweifelt, dass niemand seine literarisch hochwertigen Bücher kauft, während andere schwarze Autoren, die das weiße Klischee vom Ghettogangster inhaltlich und sprachlich bedienen, große Erfolge feiern. Als Monk aus Frust eine haarsträubende Parodie verfasst, um der weißen Leserschaft den Spiegel vorzuhalten, entwickelt sich das Buch zum mit Preisen überhäuften Bestseller und soll sogar von Hollywood verfilmt werden. AMERICAN FICTION ist eine gelungene Satire auf den amerikanischen Kulturmarkt und beschäftigt sich zugleich mit der Frage, wie tief rassistische Klischees das Denken beherrschen und zwar bei Jenen, die diese Klischees haben und bedienen, wie bei denen, die davon betroffen sind. AMERICAN FICTION ist in fünf Kategorien nominiert: Film, Drehbuch, Hauptdarsteller, Nebendarsteller und Score.

ANATOMIE EINES FALLS, in dem eine erfolgreiche Schriftstellerin unter den Verdacht gerät, ihren Mann ermordet zu haben. Während des Gerichtsverfahrens wird Schicht für Schicht eine zerrüttete Ehe frei gelegt. Enttäuschungen und Abhängigkeiten werden verhandelt und die Persönlichkeit der Angeklagten mit all ihren Fehlern und weniger sympathischen Aspekten zur Schau gestellt. Doch Sandra, die hochintelligente Hauptfigur, weiß das Verfahren zu manipulieren und den Tod ihres Mannes als Unfall oder gar Suizid darzustellen. Als jedoch dem gemeinsamen Sohn und einzigen Zeugen Zweifel kommen, wankt die Selbstsicherheit der Angeklagten. ANATOMIE EINES FALLS ist Krimi, Gerichtsthriller und Ehedrama, vor allem aber auch das Porträt einer faszinierenden Hauptfigur und über die Frage, ob sie es nun getan hat oder nicht, kann man danach noch stunden- oder tagelang debattieren. Bei den Filmfestspielen in Cannes wurde ANATOMIE EINES FALLS mit dem Hauptpreis, der Goldenen Palme, ausgezeichnet. Seltsamerweise wurde der Film aber von Frankreich nicht für den Oscar für den besten Internationalen Film eingereicht, mit dem Ergebnis, dass der tatsächliche französische Beitrag (GELIEBTE KÖCHIN) nicht nominiert wurde und ANATOMIE EINES FALLS in fünf der wichtigsten Kategorien antritt: Film, Regie, Drehbuch, Hauptdarstellerin und Schnitt.

BARBIE, der stereotypical Barbie (Margot Robbie) in ihrem täglichen Sorglosdasein in Barbieland zeigt, bis sich Risse in ihrem bisher so sinnfreien wie „perfekten“ Leben zeigen und sie sich der Realität stellen muss. Ich möchte an dieser Stelle zugeben, dass ich, als ich zum ersten Mal von diesem Projekt hörte, mir nicht vorstellen konnte, dass es funktioniert. Der einzige Aspekt, der mir etwas Hoffnung ließ, war der Name Greta Gerwig, die Drehbuch und Regie übernahm. Greta can’t do wrong. Das Ergebnis übertraf dann aber doch alle Erwartungen. Nicht nur war dem Film ein außerordentlicher kommerzieller Erfolg beschieden. BARBIE, die zweite Hälfte des Phänomens BARBENHEIMER ist mit knapp 1,5 Milliarden $ Einspiel weltweit, der umsatzstärkste Film des Jahres. Die wohl größte Überraschung war, dass er auch künstlerisch obsiegte. BARBIE ist eine brillante Satire, eine großartige Komödie und dient Gerwig zugleich als Vehikel zur Verbreitung feministischer Ideen. Das wäre definitiv einen Oscar wert. Aber dass die Academy einen Film wie BARBIE auch tatsächlich als Besten Film auszeichnet, soweit sind wir wohl noch nicht. BARBIE ist in acht Kategorien nominiert: Film, Drehbuch, Nebendarstellerin, Nebendarsteller, Production Design, Kostüme und für zwei Original Songs.

Eine Besprechung zu BARBIE findet ihr hier.

THE HOLDOVERS, in dem ein eingefleischter Junggeselle von Lehrer, ein junger Schüler und eine afroamerikanische Köchin, die den Tod ihres einzigen Sohnes betrauert, gemeinsam in der zugeschneiten Privatschule Barton Academy das Weihnachtsfest des Jahres 1970 verbringen. Schüler und Lehrer geraten immer wieder heftig aneinander, doch unter freundlichem Zureden der trauernden Mutter, rauft sich die Schicksalsgemeinschaft doch noch zusammen, lernt die Perspektive des Anderen zu verstehen und mehr Verständnis füreinander aufzubringen. THE HOLDOVERS ist ein klassisches Feelgoodmovie, das in den nächsten Jahren wohl seinen festen Platz im Weihnachtsprogramm der TV-Anstalten haben wird. Ein knackiges Drehbuch und eine Top Besetzung (neben den beiden nominierten Paul Giamatti und Da’Vine Joy Randolph sei an dieser Stelle unbedingt das fantastische Kinodebüt von Dominic Sessa hervorgehoben) machen THE HOLDOVERS trotz der ernsten Themen, die er verhandelt, zu einem großen Spaß. Regisseur Alexander Payne gestaltete den Film darüberhinaus im Stil des New Hollywood. Kameraeinstellungen, Schnitte, Musik, die Credits, selbst die Logos der Produktionsfirmen erinnern an den Stil des Kinos der frühen 1970er Jahre. THE HOLDOVERS ist für fünf Oscars nominiert: Film, Drehbuch, Hauptdarsteller, Nebendarstellerin und Schnitt.

KILLERS OF THE FLOWER MOON, der eine Mordserie im Oklahoma der 1920er Jahre seziert. Damals starben auf mysteriöse Weise zahlreiche Mitglieder des Osage Stammes, unter dessen Reservat sich gewaltige Erdölvorkommen befanden. Die Osage gelangten über die Vergabe von Bohrrechten zu unerhörtem Reichtum. Einer der Hauptverantwortlichen für die Morde war ein umtriebiger Viehbaron, der seine Neffen mit Osagefrauen verheiratete, die dann „ums Leben kamen“, so dass ihr Erbe schließlich in seine Hände gelangte. Während in der Sachbuchvorlage die Gründung des FBI, das den Fall schließlich aufklärte, im Vordergrund steht, rückt Regisseur Martin Scorsese in der filmischen Adaption das Schicksal der Osage in den Vordergrund. Anhand der Geschichte des Ehepaars Mollie und Ernest Burkhart entfaltet sich ein Drama von Liebe, Verrat und Genozid. Mit einer Laufzeit von 206 Minuten ist KILLERS OF THE FLOWER MOON einer der längsten je für den Oscar nominierten Filme. Die kluge Konstruktion des Films, der über die Liebesgeschichte der Burkharts, die Morde, die Aufklärung durch das FBI und schließlich den Prozess, nie das Leid der Osage und die kaltblütige Ökonomie des Verbrechens aus den Augen verliert, mündet in einen brillanten Epilog, der die Aufbereitung und Verarbeitung von Geschichte und Mythen durch die amerikanischen Medien, seien es Bücher, Filme, Musik, Radioshows oder heute Podcasts und Fernsehserien, dekonstruiert. Scorsese setzt sich damit auch kritisch mit seinem eigenen Werk auseinander und bereitet zukünftigen Generationen den Weg, die amerikanische Vergangenheit neu und aus diversen Perspektiven zu erzählen. KILLERS OF THE FLOWER MOON ist in zehn Kategorien für den Oscar nominiert: Film, Regie, Hauptdarstellerin, Nebendarsteller, Kamera, Schnitt, Production Design, Kostüme, Original Song und Score.

Eine Besprechung zu KILLERS OF THE FLOWER MOON findet ihr hier.

MAESTRO, ein Biopic über den berühmten Komponisten Leonard Bernstein und seine gescheiterte Ehe mit der chilenische Schauspielerin Felicia Montealegre, die 1946 den jungen, aber schon erste Erfolge feiernden Leonard Bernstein kennenlernt. Die beiden erkennen sich als Seelenverwandte und werden ein Paar, doch erst nach vier Jahren bittet Bernstein um ihre Hand. Das Paar hat drei Kinder. Doch während Leonard immer höher in den Olymp der Musikwelt aufsteigt, legt Felicia ihre Karriere auf Eis. Leonards homosexuelle Neigung ist ihr schon lange bewusst und sie hat sich entschieden, diese zu akzeptieren. Doch als die Gerüchte um seine Affären auch ihre Kinder erreichen, bricht das liberale Familienkonstrukt zusammen. Felicia lässt sich scheiden. Nachdem sie an Lungenkrebs erkrankt, kehrt Leonard zurück, um in der verbleibenden Zeit an ihrer Seite zu sein. MAESTRO ist ein Biopic, das aber in erster Linie als Liebesgeschichte und Ehedrama aufgebaut ist. Visuell (und musikalisch sowieso) ist der Film ein Ereignis. In der ersten Hälfte (1940er und 1950er Jahre) im Akademieformat und in schwarzweiß gedreht, wechselt der Film später zu einer Farbpalette, die von den Filmen des New Hollywood (späte 1960er und 1970er Jahre) bis zum Kino der Reagan Ära reicht. MAESTRO wurde von manchen Kritikern als reiner Oscarbait abgetan. Damit wird man aber der künstlerischen Vision Bradley Coopers (Produktion, Drehbuch, Regie und Hauptrolle) nicht gerecht. Der Film ist ein seit langem gehegtes Herzensprojekt und das sieht man ihm jederzeit an. Als Musikerbiographie mag er etwas flach ausfallen, als zwischenmenschliches Drama funktioniert er aber sehr gut. MAESTRO ist in sieben Kategorien nominiert: Film, Drehbuch, Hauptdarstellerin, Hauptdarsteller, Kamera, MakeUp und Ton.

Eine Besprechung zu MAESTRO findet ihr hier.

PAST LIVES, das autobiografisch gefärbte Regiedebüt der aus Korea stammenden Dramatikerin Celine Song. Nora ist als junges Mädchen mit ihrer Familie nach Kanada ausgewandert und hat Hae Sung, mit dem sie eine zarte Romanze verband, zurückgelassen. Zwölf Jahre später nimmt Hae Sung (Teo Yoo) über das Internet Kontakt zu ihr auf und erneut entspinnt sich eine (Fern)Beziehung. Als sich aber herausstellt, dass Hae Sung, der mitten im Studium steckt, keine Möglichkeit sieht, sie zu besuchen, zieht Nora (Greta Lee) einen vorläufigen Schlussstrich. Nora hat als angehende Autorin eigene Karrierepläne. Sie lernt Arthur (John Magaro) kennen, der ebenfalls Autor ist und mit dem sie mehr verbindet. Weitere zwölf Jahre später besucht Hae Sung New York und nimmt erneut Kontakt zu Nora auf, die dort mit Arthur lebt, den sie zwischenzeitlich geheiratet hat. Als sich Nora und Hae Sung nach nunmehr 24 Jahren wiedersehen, herrscht sofort eine große Herzlichkeit zwischen den Beiden und die Frage steht im Raum, wie beider Leben verlaufen wäre, hätte es die Trennung im Kindesalter nicht gegeben. Mit PAST LIVES ist Celine Song der ohne Frage schönste Film des Jahres gelungen. Ohne auf falsche Sentimentalitäten zu setzen, stellt der Film die richtigen Fragen und findet keine Lösungen, die ohnehin nur Behauptungen wären. Da es in diesem Film keinen Antagonisten gibt, kann das „Happy End“ nur ein bittersüßes sein und so ist PAST LIVES auch mit einem Hauch von Trauer durchzogen. PAST LIVES startete mit viel Hoffnung in die Award Season. Am Ende ist er bei „nur“ zwei Nominierungen gelandet: Film und Drehbuch. Das hat im letzten Jahr, bei WOMEN TALKING, aber auch für einen Oscar gereicht. Die Hoffnung liegt hier aber ganz klar auf Celine Songs wunderbaren Drehbuch.

POOR THINGS, schließlich, ist eine schräge Adaption des Frankenstein Mythos. Der entstellte, aber geniale Wissenschaftler Godwin Baxter (Willem Dafoe) pflanzt einer Selbstmörderin das Gehirn ihres ungeborenen, noch lebenden Kindes ein. Das Geschöpf, Bella Baxter (Emma Stone) genannt, ist eine junge, schöne Frau mit dem Verstand und dem Verhalten eines Kleinkinds. Der von Godwin hinzugezogene Student Max McCandles (Ramy Youssef) soll Bellas Verhalten und Fortschritte dokumentieren und verliebt sich in das erratische Wesen. Als Bella jedoch ihre Sexualität entdeckt, wird sie von dem windigen Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) verführt. Dem eitlen Gockel wächst Bellas ungenierter und experimentierfreudiger Freigeist aber bald über den Kopf. Als sie seiner überdrüssig wird, lässt sie ihn fallen und sucht in einem Pariser Bordell weitere zwischenmenschliche Erfahrungen, bevor sie, zurück in London, mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert wird. Bella Baxter ist der vielleicht faszinierendste Charakter, den das Kinojahr 2023 hervorgebracht hat. Ein Frau, die ihre Mutter und gleichzeitig ihre Tochter ist und mit kindlicher Neugier die (viktorianische) Welt entdeckt und sich über sämtliche gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzt. Dem Film wurde zuletzt, nicht zu unrecht, vorgeworfen, ganz dem Male Gaze zu unterliegen. Bella Baxter, diese sich ganz selbstverständlich emanzipierende Kindfrau, ist das Geschöpf von drei Männern: Schriftsteller Alasdair Gray, Drehbuchautor Tony McNamara und Regisseur Yorgos Lanthimos. Ein Aspekt, der in der Kritik aufkam, betrifft die elementare weibliche Erfahrung der Menstruation, die Bella, die in dem Körper einer erwachsenen Frau lebt, nicht weiter zu beschäftigen scheint. Auch im Film sind es immer wieder Männer, die ihre Entwicklung bestimmen und beeinflussen, sie einhegen und letztlich ihrem Willen unterwerfen wollen. Unterm Strich ist POOR THINGS aber dennoch eine Befreiungsgeschichte und in vielen feministischen Ansätzen dem anderen großen Woke-Epos des Jahres, BARBIE, nicht unähnlich. Visuell ist POOR THINGS ein wahrer Augenschmaus. Die surreale Ästhetik und der schräge, dissonante Score von Jerskin Fendrix, geben dem Film eine traumhafte Anmutung. POOR THINGS ist elfmal für den Oscar nominiert: Film, Regie, Drehbuch, Hauptdarstellerin, Nebendarsteller, Kamera, Schnitt, Production Design, Kostüme, MakeUp und Score. Auf dem Papier ist POOR THINGS wohl die stärkste Konkurrenz für OPPENHEIMER. Aber lassen wir uns nicht täuschen. Der Beste Film steht schon fest.

Allen, die sich heute Nacht die Oscarverleihung anschauen, sei an dieser Stelle viel Spaß gewünscht. Auch wenn viele Preisträger*innen schon festzustehen scheinen, gibt es natürlich immer Spielraum für Überraschungen. Ein sehr spannendes und tolles Kinojahr 2023 findet damit seinen Abschluss und wird (hoffentlich) noch mal angemessen zelebriert.

Thomas Heil schaut seit 1992 die Oscars – und stellt jedes Jahr seine Favoriten zusammen. Seine Lieblingsfilme haben es oft nicht auf die Liste geschafft, aber darum geht es ja auch nicht, denn Film ist Kunst und kein Wettbewerb, wie man auch über Sinn und Unsinn solcher Preisverleihungen streiten kann. Nur soviel: man sollte sie gewiss nicht zu ernst nehmen.