36. Filmfest Dresden: Die Highlights der BFF-Redaktion
Vom 16. bis 21. April fand die 36. Ausgabe des Filmfests Dresden statt. Zufällig waren gleich zwei BFF-Autorinnen vor Ort, Theresa Rodewald und Chefredakteurin Marie Ketzscher. In der Folge haben die zwei ihre Favoriten aus dem Programm zusammengestellt.
CARROTICA
Daniel Sterlin-Altman (Gewinner: Bester Animationsfilm im Deutschen Wettbewerb), Deutschland, 2024
Kinky Animation ist auch jenseits von Porn-Anime inzwischen schon fast zu seinem eigenen Genre avanciert. Und es ist ja auch klar, warum: Die Möglichkeiten des Mediums machen ein ganz eigenes Erzählen, eine völlig neue Formsprache jenseits von Klischees möglich, lassen der Fantasie freien Lauf. Aus dieser Vielfalt schöpft auch Daniel Sterlin-Altman mit seinem Stop-Motion-Film CARROTICA: Eine queere Coming-of-Age-Dramedy, in der Karotten den emotionalen Kitt zwischen Mutter und Sohn bilden, aber auch als erotisch aufgeladene Platzhalter für Sexfantasien fungieren. Dabei gelingt Sterlin-Altman etwas tonal ganz und gar Außergewöhnliches: Sein CARROTICA ist explizit, aber auch unglaublich niedlich und liebevoll gemacht. A new voice in animation! – MK
DES RÊVES EN BATEAUX PAPIERS
von Samuel Suffren, Haiti, 2024
Port-au-Prince in Schwarz-weiß. Bilder, die etwas von Sehnsucht haben. Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die wir nur erahnen können. Edouard lebt zwischen dieser Vergangenheit und der Gegenwart, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Von seiner Frau ist ihm nur ihre Stimme geblieben, als Tonaufnahme auf einer Kassette. Untermalung seines Alltags: tröstlich, sinnlich, schmerzhaft. Immer anwesend und doch nie da. Zart und selbstverständlich sorgt Edouard für seine Tochter Zara – Liebe als Fixpunkt, als Anker. Des rêves en bateaux papiers erzählt von Trauer, Flucht und Zurückbleiben und ganz nebenbei noch von Zuneigung und Vaterschaft jenseits gegenderter Klischees. – TR
HITO
von Stephen Lopez, Philippinen, 2023
Fantastisch, wild und gänzlich unkonventionell kommt dieser philippinische Kurzfilm von Stephen Lopez daher, der in der Berlinale-Generation 14plus-Sektion seine Premiere feierte. Ein Mädchen begegnet in einer dystopisch anmutenden Welt aus Atommeilern, Ausgangssperren und anderen via Lautsprecher artikulierten Verordnungen entweder einem Seelenverwandten oder dem Teufel höchstpersönlich in Form eines Seewolfs – so klar ist das nicht, als eine schwebende Katze sie in eine Parallelwelt entführt. Das ist alles herrlich übertrieben, knallig bunt, und entbehrt aber auch wegen der Referenzen auf die hart durchgreifende Drogenpolizei nicht einer realpolitischen Deutungsebene. Ein Coming-of-Age als Befreiuungsschlag.– MK
THE MIRACLE
von Nienke Deutz, Belgien, 2023
Urlaub ganz allein im All Inclusive Hotel – Entspannung pur? Eher zwanghafter Spaß, Entspannung auf Knopfdruck, ständiges Yoga und gechlortes Wasser. Vor allem aber: Aggressiv gelebte Zweisamkeit, Familienspaß und Reproduktion. Überall schwangere Frauen – ein Wunder der Natur! Ach, wie schön! Wie märchenhaft! Kafkaeske Normativität. Ein erfülltes Leben scheint plötzlich leer und mangelhaft – ein Gefühl von Einsamkeit, so zwanghaft und verordnet wie die Urlaubsaktivitäten im Hotel. Mit Witz, Widerstand und einer Mischung aus Stop-Motion und Zeichentrick untersucht THE MIRACLE gesellschaftliche Obsessionen rund um Schwangerschaft und Familie. – TR
NIGHT SHIFT
von Kayije Kagame, Hugo Radi, Schweiz, 2023
Als sich der Bühnenvorhang schließt, brennt nur noch die Geisterlampe im dunklen Theater weiter. Sie glimmt zwischen den Vorstellungen und soll so bösen Geistern schützen, die die Bühne anderenfalls bevölkern – so das Intro von NIGHT SHIFT. Im Anschluss begleiten wir zwei Schwarze Charaktere bei ihren nächtlichen Exkursen, die Geister sein könnten oder auch nicht. Zuerst eine Schauspielerin, Text übend in der Garderobe, dann in einem Kostüm bis zum Morgengrauen auf einem Sofa Theateraufführung schauend. Und eine Nachtwächterin im Naturkundemuseum, die das auditiv-kreischende Aufbegehren der vielen Tiergeister in ihren ausgestopften Hüllen wahrnimmt. Und die kurz aus der ihr zugeschriebenen Rolle ausbricht. NIGHT SHIFT ist eine schöne Sensibilisierung für die „schlafenden“ Kultur- und Wissensorte in einer Stadt, und die Menschen, die sie, oft ungesehen, durch ihre Arbeit oder historische Präsenz am Laufen halten. – MK
NOCTURNO PARA UMA FLORESTA
von Catarina Vasconcelos, Portugal, 2023
Wenn Seelen reden könnten, worüber würden sie sich unterhalten? Welche Form nähmen sie an? In NOCTURNO PARA UMA FLORESTA sind es Pflanzen, die die Seelen von Frauen beherbergen. Frauen, deren Bewegungsräume zu ihren Lebzeiten eingeschränkt waren, die einen Garten nicht betreten, ein Gemälde nicht erblicken durften. Gelebt haben sie 15. Jahrhundert und anscheinend führen sie seitdem dieselbe Diskussion: Wie umgehen mit dem Gemälde, das ihnen so lange vorenthalten wurde? NOCTURNO PARA UMA FLORESTA ist Justizdrama ohne gesprochenen Dialog, feministische Erkundung von Geschichte und botanisch-metaphysische Komödie in einem. – TR
OYU
von Atsushi Hirai, Frankreich, 2023
Ein öffentliches Badehaus in einer japanischen Kleinstadt. Es ist der letzte Tag des Jahres. Vor allem ältere Herrschaften suchen diesen Ort auf – nehmen ein Bad, tauschen sich aus, leisten einander Gesellschaft. Ein Mann sticht heraus: Er ist jünger, nicht von hier. Das Badezubehör, das er am Tresen abholt, scheint ihm nicht zu gehören. Wir schauen ihm beim Waschen zu, hören mit ihm die Gespräche der anderen an und merken: Ihm fehlt etwas. Wir sehen ihn und spüren den Hohlraum, die Leere und die Trauer um einen geliebten Menschen. OYU ist behutsam, leise und profund. Selten war Neuschnee heftig fallend im Licht einer Straßenlaterne so bewegend wie in diesem Film. – TR
SLIMANE
von Carlos Pereira, Deutschland, 2023
Wie findet man Bilder, um von queerfeindlicher Gewalt zu erzählen, ohne dabei queeres Leid zu reproduzieren? Carlos Pereira hat sich mit seinem beachtlichen SLIMANE für eine reduziert-fokussierte Komposition entscheiden, die Leerstellen zulässt. So hören wir in einer der schönsten Szenen ein intimes Gespräch, aber die Kamera ist nicht auf die Sprechenden gerichtet, sondern auf die nackte Tapetenwand zwischen ihnen. Das wir nur bruchstückhaft begreifen, was passiert ist, ist SLIMANEs rätselhafte Stärke. Der Protagonist war im Gefängnis, er kehrt zurück in seine Community in einem kleinen Dorf, aber sein Freund wurde „mitgenommen“, schließlich kehrt er zurück an einen Fluss, zieht dort vorsichtig einen Perlenohrring an, ein queerer Rave findet in einer Lichtung statt. Im Rückzug in der Natur und im safer space der community bekommt der Körper dann auch eine andere Aufmerksamkeit und Sicherheit; erst glitzert der Ohrring im Dunkeln, wird zur veritablen Discokugel, dann fährt der Technobeat in die Glieder – alles kulminiert in einem widerständigen, energetischen, getriebenen Tanzen. Ob sich hier jemand (kurzzeitig) aus den Zwängen einer imaginierten queerfeindlichen Dystopie freimacht oder sich aus leider ganz und gar jetztzeitigen, rassifizierten Stereotypen befreit – das werden Zuschauer*innen für sich unterschiedlich, aber mit viel Gewinn, interpretieren. – MK
SUCH MIRACLES DO HAPPEN (TAKIE CUDA SIE ZDARZAJA )
von Barbara Rupik, Polen, 2022
Bei der letzten Ausgabe der DOK Leipzig konnte sich dieser verzaubert-mystische Animationsfilm über die Goldene Taube freuen. Mit ihren zum Teil schnuckeligen und dann wiederum entstellten Porzellan-Puppen erkundet Barbara Rupik die betörende, aber auch verstörende Omnipräsenz des Glaubens: In SUCH MIRACLES DO HAPPEN bekommen Marienfiguren ein Eigenleben und laufen davon. Ob diese „Auferstehungen“ tatsächlich passieren? Und spielt es in dieser dörflichen Gegend denn überhaupt eine Rolle, ob die Wissenschaft das untermauern könnte? Das Wunder existiert, wenn man daran glaubt. – MK