34. FilmFestival Cottbus: Über die Grenze(n) schauen
Seit 1991 gibt es das FilmFestival Cottbus nun schon! Mit dem Blick auf die anstehenden 35-Mauerfall-Feierlichkeiten und die gerade neu aufflammenden Diskussionen sowie Animositäten zwischen und um Ost und West ist das eine beruhigende Konstante – zumal das Filmfestival in fußläufiger Entfernung zum Nachbarland Polen nach wie vor ein unaufgeregtes Augenmerk auf die Filmkunst aus dem östlichen Mitteleuropa, dem Baltikum, Südosteuropa, Osteuropa, dem Kaukasus und Mittelasien legt.
Das Programm aus insgesamt 147 gezeigten Filmen ist umfassend: Neben den Wettbewerben (in denen in den Sektionen Spielfilm, Kurzfilm und Jugendfilm der beste Spielfilm gekürt, außerdem die beste Regieleistung und die beste darstellerische Einzelleistung prämiert wird), gibt es zahlreichere weitere Sektionen. So zeigt das „Spectrum“ zeitgenössisches Filmschaffen, es werden „Hits“ aus verschiedenen Ländern präsentiert (so zum Beispiel der tarantioneske SCARBORN, der auch beim 19. filmPOLSKA zu sehen war), „Ecoeast“ schaut auf das Spannungsfeld zwischen Mensch und Natur, „Midnight Madness“ widmet sich den Genrefilmen, „Heimat | Domownja | Domizna“ lässt regionales, sorbisches und internationales Filmschaffen zusammentreffen und auch ein Kinderprogramm ist dabei. Das MIOB-Programm – ein Netzwerk aus Cottbus, Crossing Europe Film Festival, Seville European Film Festival, European Film Festival Palić, Les Arcs Film Festival, European Film Forum Scanorama sowie Trieste Film Festival – fungiert ergänzend als Fenster in das europäische (Kurzfilm)metier mit Fokus auf Umwelt- und Klimaschutz oder Diversität.
Zudem gibt es verschiedene Länderschwerpunkte: Das diesjährige Länder-„Closeup“ blickt nach Armenien, es gibt einen Ukrainischen Filmtag, außerdem wird das vielfältige Filmschaffen tschechischer Regisseurinnen in den Fokus gestellt. Abgerundet wird das Angebot für das breite Publikum durch ein Rahmenprogramm aus Ausstellungen, Masterclasses und musikalische Special Events.Auch die Filmindustrie kommt nicht zu kurz: Vom 6.-8.11. findet auch wieder connecting cottbus statt, als „East-West“-Koproduktionsplattform.
Marie Ketzscher
BFF hat in der Folge ein paar Filme aus dem Programm jenseits der Wettbewerbe zusammengestellt, die ihr nicht verpassen solltet.
IM PRINZIP FAMILIE
Darum geht es:
Wenn die Eltern nicht mit dem Alltag klar kommen, ihre Kinder vernachlässigen, schlagen oder sogar missbrauchen, kommen die Kinder manchmal (auf eigenen Wunsch oder staatlich veranlasst) in kleine Wohngruppen, in denen die Erzieher*innen quasi zwangsläufig die engsten Bezugspersonen werden. Quasi und im Prinzip Familie also. Daniel Abma hat ein solches sozialpädagogisches Wohnprojekt mit 6- bis 12-jährigen Jungen und vor allem den Alltag der Erzieher*innen zwischen bürokratisch-kalter Dokumentation, Schlichtung, Kuscheln und ständiger Mediation mit den nicht gerade unkomplizierten Eltern über ein Jahr begleitet; dem Dreh gingen fünf Jahre Recherche voraus.
Was du zum Film wissen musst:
Daniel Abmas IM PRINZIP FAMILIE feierte seine Weltpremiere bei der 67. DOK Leipzig im Deutschen Wettbewerb. Für seine genaue, unaufgeregte, empathische Beobachtung gewann er zu Recht drei Partnerpreise, unter anderem den ver.di-Preis für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness. Dabei erliegt Abma nie der Versuchung, die Erzieher*innen zu heroisieren oder, andererseits, die Eltern zu dämonisieren – obwohl es wahrlich genug Gründe gäbe. Man verlässt den Film mit einer großen Wertschätzung für die engagierten Erzieher*innen und ihren Kampf um Perspektiven und Optimismus, von denen sich jede*r eine Scheibe abschneiden könnte oder gleich mehrere. – MK
Termin beim 34. FilmFestival Cottbus
05.11.2024 | 19:30 Uhr | Weltspiegel Saal 2 (dtOmeU)
06.11.2024 | 18:30 Uhr | Obenkino (dtOmeU)
27
Darum geht es:
Nicht in die eigene Bude ziehen können, auch wenn man längst im Berufsleben steht. Schlimme Realität für viele junge Menschen in Europa. Auch in Budapest, für die 27-jährige Protagonistin, deren ganzes Streben nach Freiheit inklusive sexueller Fantasien ständig durch die Begrenzung der elterlichen Wohnung erstickt werden. Doch sie lässt sich nicht brechen. Ein formstarker, sinnlicher und vor Energie nur so berstender Animationsfilm.
Was du zum Film wissen musst:
Flóra Anna Buda gewann mit 27 unter anderem die Goldene Palme in Cannes und den Annecy Cristal – eine der wichtigsten Auszeichnungen im Animationsbereich. 27 ist kein Ausnahmefall und steht vielmehr für eine unglaublich vielseitige ungarische Animationsszene. – MK
Termin beim 34. Filmfestival Cottbus
09.11.2024 | 19:00 Uhr | Obenkino (OmeU) (Teil des MIOB Shorts 1-Programms)
I’M NOT EVERYTHING I WANT TO BE
Darum geht es:
Die Fotografin Libuše Jarcovjáková wuchs in der Tschechoslowakei auf, die sich nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 in der repressiven Phase der „Normalisierung“ befand. In Prag suchte sie nach Möglichkeiten, um den staatlichen Repressionen zu entkommen und ihre sexuelle Identität ausleben zu können – immer mit ihrer Kamera im Gepäck. Einer dieser „Safe Spaces“ war der T-Club, ein Treffpunkt für die queere Szene. Eine Scheinehe gab ihr die Möglichkeit, nach Westberlin zu ziehen. Von dort ging es nach Tokio, wo sie sich zeitweilig als gefragte Modefotografin etablieren konnte. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kehrte Libuše schließlich nach Prag zurück.
Was du zum Film wissen musst:
Für I’M NOT EVERYTHING I WANT TO BE kollaboriert Libuše Jarcovjáková mit der Filmemacherin Klára Tasovská und berichtet auf lebhafte Weise von ihrer wilden Zeit und der Suche nach Freiheit. Anhand ihrer Tagebucheinträge, die sie selbst vorliest, erschließt sich ihre ganz persönliche Geschichte zwischen politischen Konflikten, Körperlichkeiten und Beziehungen. Anhand einer Vielzahl von analogen Fotografien, die Libuše aufgenommen und in ihrem Archiv aufbewahrt hat, wird diese Identitätssuche verbildlicht und zeigt faszinierende Geschichten, die das Leben schreibt. -HK
Termin beim 34. FilmFestival Cottbus
Mi 06.11. | 13:00 Uhr | WELSTSPIEGEL SAAL 2 CZ03
So 10.11. | 10:30 Uhr | WELSTSPIEGEL GROSSER SAAL
LANDSHAFT
Darum geht es:
Den Berg Karabach-Konflikt, und wie er sich in die Landschaft einschreibt und Menschen in jeder alltäglichen Handlung prägt. Daniel Kötter nutzt für seinen jüngsten Dokumentarfilm filmische Mittel, die schon seine früheren Filme auszeichneten: Meist sehen wir vorüberziehende Landschaftspanoramaen und suchen in der Weite die Grenze, dabei hören wir ein Stimmen-Kaleidoskop, das sich nicht eindeutig Protagonist*innen zuordnen lässt. Das System, die Struktur soll im Vordergrund stehen, nicht das individuelle Schicksal.
Was du zum Film wissen musst:
Während LANDSHAFT noch die Festivals tourt, ist Daniel Kötter unlängst in neue Projekte vertieft. Aktuell erarbeitet er für das Radialsysem gemeinsam mit der kongolesischen Frauenrechtsaktivistin Olande Byamungu, dem indonesischen Instrumentenbauer und Musiker Ikbal Lubys und dem deutschen Tischler und Performer Wolfram Sander eine Form von dokumentarischem Theater, konkret: einen begehbaren Film- und Theaterwald, der die Folgen der Rodung in den drei Ländern der Projektemacher*innen erfahrbar werden lässt. – MK
Termin beim 34. Filmfestival Cottbus
07.11.2024 | 10:00 Uhr | Stadthalle (OmeU + Simultanübersetzung)
07.11.2024 | 18:00 Uhr | Obenkino (OmeU)