Festival-Tagebuch zur 75. Berlinale

Im gemeinsamen Tagebuch vom Berliner Fenster & BFF könnt ihr jeden Tag unser Festivallife auf der Berlinale miterleben. Im Magazin gibt’s die Extended Version! Viel Vergnügen…
Tag 0: Ready, Set …
Trommelwirbel… der goldige Bär schwebt von links kommend nach rechts durchs Bild und bald verkündet ein Feuerwerk den im Anschluss startenden Film. Richtig! Die Berlinale beginnt! Die 75. Jubiläumsausgabe, zugleich die erste der neuen Leiterin Tricia Tuttle, öffnet von 13. Februar bis zum 23. Februar die Vorhänge der Kinos der Stadt. Festivallife, aufregend! Aber keine Sorge, das streng subjektive Tagebuch von Berliner Fenster und berliner-filmfestivals.de bringt euch sicher durch die kommenden Festivaltage! Allen, die heute schon Kino und Diskurs wollen, sei die Woche der Kritik ans Herz gelegt, die eröffnet mit der Konferenz „Zurück zur Klassenfrage – Filmkultur und soziale Ungleichheit“.
Tag 1: Blitzlichtgewitter und Schnee
Heute eröffnet sie also, diese 75. Berlinale! Was die Stardichte angeht, lässt sich der Auftakt am Berlinale Palast in den kommenden Tagen vermutlich nicht toppen und auch der Mix ist bemerkenswert: Mit Tom Tykwer legt einer der größten deutschen Regisseure der Gegenwart nach vielen Jahren und Serien (BABYLON BERLIN) mit DAS LICHT endlich wieder einen Spielfilm vor… und bringt sicher seine Stars Lars Eidinger, Nicolette Krebitz und Tala Al-Deen mit auf den Roten Teppich. Dort werden alle Anwesenden neben der großartigen Tilda Swinton (GRAND BUDAPEST HOTEL, ONLY LOVERS LEFT ALIVE, MICHAEL CLAYTON) merkwürdig klein aussehen, sie erhält den Goldenen Ehrenbären für ihr Lebenswerk, das übrigens 26 Werke beinhaltet, die auf dem Festival zu sehen waren. Auf die Rede von Laudator Edward Berger (mit vier Oscars für IM WESTEN NICHTS NEUES ausgezeichnet) darf man gespannt sein.
Tag 2: Tilda-Time: Glaube an Kultur im Widerstand
Das größte Publikumsfestival der Welt ist die Berlinale … und das politischste Filmfestival auch, diesen Ruf belegt die 75. Ausgabe mit ihrer Eröffnung eindrucksvoll. Auf dem Roten Teppich protestierte MeToo gegen sexuelle Gewalt, andere für Humanität und andere gegen Trump, Weidel und deren Unterstützer. Lange nachhallen dürften die Worte von Tilda Swinton. Die womöglich coolste Person des Planetens – was manche ob ihrer Erhabenheit anzweifeln – nutzte ihre Auszeichnung mit dem Ehrenbären für ein Plädoyer voller Kino- und Festivalliebe… und für Kritik: „Das Unmenschliche wird unter unserer Aufsicht verübt!“, sagt sie, pausiert und wenigstens im Berlinale Palast stimmen ihr scheinbar alle zu.
Tag 3: Pretty in pink
Einige Stars passen besser zu Berlin als andere, es sind die, die einem beim Späti und in der U-Bahn ebenso begegnen könnten wie in der Berghain-Schlange. Tilda Swinton und Kristen Stewart fallen einem ein… und ja, Timothée Chalamet. Als Hauptdarsteller und Produzent präsentiert er sein Bob Dylan Biopic LIKE A COMPLETE UNKWOWN bei den Internationalen Festspielen… und zwar auf dem Roten Teppich in zartrosa, mit Wuschelhaaren, Schnubbiflaum und stets verträumt-melancholischen Blick. Sein Werk strahlt mit dem weißen Schnee um die Wette und wird sicher nicht nur die „Girls and Gays“ verzaubern, die Chalamet seit CALL ME BY YOUR NAME umschwärmen, sondern auch für Dylans umfangreiches wie kompromissloses Schaffen begeistern.

Tag 4: Talente
Seit 23 Jahren lädt die Berlinale „Talents“, Filmschaffende unterschiedlicher Gewerke, von Produktion über Kostüm und Maske bis hin zur Regie, zum Festival ein. Thema der 2025er Ausgabe: „Listen Courageously“, also mutiges Zuhören. Was das bedeuten kann, demonstrierte das Duo Tuttle & Tykwer bei der Eröffnung eindrucksvoll: Auf der Bühne nahmen die beiden an Keyboard und Tuba Platz, um minutenlang NICHT zu spielen. Festivalleiterin und Starregisseur lehrten mit ihrer Performance eine wichtige Lektion: Einander Zuhören, Wahrnehmen, Beobachten, ohne sich Ablenkungen auszusetzen, das ist anstrengend, erfordert Konzentration und ja, Mut! Stargäste der Talks, wie Jury Präsident und Regisseur Todd Haynes (u.a. Goldene Palme für CAROL) oder Michel Franco, der mit DREAMS um den Goldenen Bären konkurriert, versprechen wichtige Impulse für die Zukunft des Kinos, die einige der Gäste aus aller Welt gestalten werden.
Tag 5: Bigotterie
„Einfach mal was Schönes“… könnte – in Anlehnung an Karoline Herfurths Komödie – ein Gedankengang der Senatoren-Riege um Joe Chialo (Kultur) und Bürgermeister Kai Wegner gewesen sein. Die Regierenden genießen in diesen Tagen den Glamour und das Blitzlichtgewitter am Roten Teppich der Berlinale. Dafür verließen sie sogar unentschuldigt (sagt der Tagesspiegel) eine Plenarsitzung früher. Kultur hat Berlin übrigens noch (!) an 365 Tagen im Jahr zu bieten. Das wäre doch eine wertvolle Erkenntnis des Joyrides! Denn die Kultur der Stadt braucht Unterstützung und keine essentiellen Kürzungen! Darauf wiesen gestern übrigens auch 38.000 Protestierende auf dem Bebelplatz hin.
Tag 6: Your daughter is watching you!
Chancen auf einen Bären! Den Zeiten nahezu totaler Überwachung begegnen viele mit dem Satz: Ich hab’ nichts zu verbergen. Aber kleine Geheimnisse, Nichtgesagtes und auch Lügen schmücken unseren Alltag. Es gibt nämlich einiges zu verbergen. Frédéric Hambaleks gefeiertes Debüt WAS MARIELLE WEIß behandelt dieses Thema absurd komisch. Tochter Marielle entwickelt die Gabe alles sehen und hören zu können, was die Eltern (stark: Julia Jentsch & Felix Kramer) treiben. Gläsern vor dem eigenen Kind, das will niemand. Die Privatsphäre wird zur Offenbarung. Dieser deutsche Beitrag im Berlinale Wettbewerb sei ein „Jackpot“, bemerkt ein Journalist in der PK.
Tag 7: Halbzeit
Zur Halbzeit spricht das kulturaffine Berlin viel mehr über gelungene Werke und glitzernde Stars seines Filmfestivals als über die Skandale, mit denen es umgehen muss – oder gar die arktische Plage. In Zeiten, die wenige nur halbwegs gute Nachrichten liefern, dürfen die Berlinale und Leiterin Tricia Tuttle das als Erfolg verbuchen! Mit Benedict Cumberbatch (THE THING WITH FEATHERS) oder Ethan Hawke und Margaret Qualley (in Richard Linklaters BLUE MOON) andere Welten und Zeiten entdecken! Ausflüge wagen, etwa in die Wälder Österreichs in Andreas Prochaskas WELCOME HOME BABY oder mit EIGHTY PLUS des serbischen Regisseurs Želimir Žilnik.
Weiterlesen: Hier die Kritik „Die Jahre nutzen„ von Michaela Grouls zu EIGHTY PLUS…
Tag 8: Legende
Der britische Künstler und Filmemacher Sir Isaac Julien hat in der Urania humorvoll und eloquent sein neues Werk ONCE AGAIN… (STATUES NEVER DIE) vorgestellt. Darin setzt sich der Wegbereiter des „New Queer Cinema“ in opulenten Schwarz-Weiß-Bildern mit dem Vermächtnis von Alain Locke, des „Vaters der Harlem-Renaissance“, auseinander, den MOONLIGHT-Star André Holland spielt. Das Werk ist die Fortsetzung seines 1989 mit dem Teddy Award für den besten Kurzfilm ausgezeichneten Meisterwerks LOOKING FOR LANGSTON. Ob die Urania weiter Spielort der Berlinale sein kann, ist fraglich. Der CDU-/SPD-Senat will die Förderung des Hauses ab April einstellen.
Tag 9: Auszeichnungen, die die Welt nicht braucht…
Kurz vor der großen Preisverleihung vergeben wir heute einige Bären, die es gar nicht gibt … und wahrscheinlich auch nicht geben sollt!
Henning Koch vergibt den „Melodramatischen Kitsch-Bären“ an…
THE THING WITH FEATHERS
… mit Benedict Cumberbatch als übertrieben dramatisch trauernden alleinerziehenden Wittwer!
Theresa Rodenwald prämiert…
HONEY BUNCH
… mit gleich 1.000 goldenen Kaninchen!
&
SILENT SPARKS
… mit dem Bären für die besten Gesichtsmasken!
Michaela Grouls zeichnet
Lars Eidinger
mit dem „Besten Locken-Bär“, die er sich mit gänzend-leuchtenden Haaren als Pierre-Albert Delalandre in LEIBNIZ, CHRONIK EINES VERSCHOLLENEN BILDES verdient.
Denis Demmerle wünscht sich für
ISLANDS
ein Goldenes Kamel, für dessen Freiheitsdrang!
Susanne Teichmann zeichnet
DROMMER
mit einem Strickbären aus und vergibt eine Mutterbärin mit Nabelschnur an
IF I HAD LEGS
Weiterlesen: Hier unsere Kritik „Pull the trigger, pull it!„ zu IF I HAD LEGS I’D KICK YOU…
Marie Ketzscher plädiert für einen
Bären mit fusselig-geredetem Mund für
FWENDS
Tag 10: Bärenlese
Knapp 1.000 Vorführungen organisiert die Berlinale für ihr Publikum. Wundervoll! Dieser Marathon folgt einer Logik, alle laufen auf ein Ziel zu: der Preisverleihung im Berlinale Palast. Mögliche Gewinner und dann strahlende Siegerinnen sind in unserer Berliner-Filmfestivals-Redaktion DAS Thema. Die eigenen Lieblinge sind identifiziert, aber bei den Kritikern liegt Sangsoos öder WHAT DOES THAT NATURE… wohl vorne. Sollte nicht eher IF I HAD LEGS gewinnen oder wenigstens Hauptdarstellerin Rose Byrne? Was ist mit den großen US-Stars Linklater und Hawke? Brauchen die solche Auszeichnungen überhaupt noch? Todd Haynes & Co werden weise entscheiden.
Tag 11: Träume
Jury Präsident Todd Haynes lobte eine „Meditation über die Liebe“, ehe er kurz darauf den Goldenen Bären der 75. Berlinale an Dag Johan Haugerud überreichte. Dessen DREAMS (SEX LOVE) sicherte sich den Hauptpreis des Filmfestivals mit der zarten Coming-Of-Age Liebesgeschichte der 17-jährigen Johanne, die diese schreibend ver- und bearbeitet. Kritische Gala-Worte fand Filmemacher Radu Jude. Der Rumäne wurde für sein Drehbuch zu KONTINENTAL 25 mit dem Silbernen Bären bedacht, forderte in seiner Dankesrede „mehr Solidarität in Europa“. Mit Blick auf die Wahl in Deutschland formulierte er die zynische Hoffnung, dass die nächste Ausgabe nicht mit Riefenstahls TRIUMPH DES WILLENS eröffnet werde. Also geht Wählen!