Alfilm-Leiter Iskandar Abdalla: „Wir haben eine Verantwortung für unsere Communities“

Interview zur 16. Ausgabe Alfilm in Berlin
Vom 23. bis 30. April kehrt das Alfilm-Festival zum 16. Mal auf die Berliner Leinwände zurück. Im SİNEMA TRANSTOPIA, im Wolf Kino, im City Kino Wedding, im Kino in der Kulturbrauerei und in der Spore Initiative werden Lang- und Kurzfilme aus der arabischsprachigen Welt und ihrer Diaspora gezeigt; außerdem gibt es ein flankierendes Rahmenprogrammm. Berliner Filmfestivals hat Iskandar Abdalla getroffen, der seit 2015 für Alfilm arbeitet, und seit diesem Jahr die Künstlerische Leitung übernommen hat.
In eurem Spotlight-Programm setzt ihr traditionell einen thematischen Fokus. In diesem Jahr heißt er „Canceled Futures, Endless Pasts.“ Was hat es damit auf sich?
Iskandar Abdalla: Der Fokus des Spotlights liegt auf Postkolonialismus und Dekolonialisierung, wobei es darum geht, keine konventionellen Narrative aufzugreifen. Denn wenn man über Kolonialismus in der Region spricht, dann kommen immer zuerst Themen wie Ausbeutung und Besetzung zur Sprache, als würde der Kolonialismus mit dem Moment enden, in dem ein Staat unabhängig wird. Den „Rest“ könne man dann irgendwie überwinden. Diese Vorstellung versuchen wir in unserer Filmreihe in Frage zu stellen und verstehen Postkolonialismus als einen andauernden Prozess, als Afterlife oder Nachleben, in dem Kolonialismus oft weiterlebt, aber im Verborgenen, und ökologische und politische Krisen auslöst. Es geht um koloniale Kontinuitäten. Und die Filme versuchen, eine Art Antwort darauf zu geben, wie sich diese Kontinuitäten und Realitäten verändern lassen.
Also du meinst, dass sie in Form von Utopien oder Auswege aus der aktuellen Kontinuität des Kolonialen anbieten?
Ja, aber es sind Utopien und Dystopien (vor allem Dystopien). Also die Vorstellung, welche Zukünfte einmal möglich waren, aber nicht realisiert wurden. In diesen utopischen Zukünften sehe ich ein Potenzial, ein kritisches Potenzial. Imagination als Möglichkeit, sich nicht mit der Realität abzufinden. Normalerweise sagt man ja eher: Man muss sich abfinden, vielleicht gibt es dann einen Ausweg. Aber ich glaube, dass wir in einer Zeit leben, in der diese konventionellen Narrative oder Erzählungen gescheitert sind. Das wiederholte Versagen von unterschiedlichen politischen Regimen, auch nach Revolutionen. Man steckt immer noch in den gleichen Krisen. Alles wiederholt sich. Und wenn man sich dann, in diesem Moment, alternative Realitäten vorstellen kann, dann kann das einen Ausweg bedeuten für Menschen in der Region, aber auch für Menschen in der Diaspora. Hier kann Imagination ein Tool für Selbstermächtigung sein.

Was wären denn konkrete Beispiele für diese Imagination als Ausweg aus der Krise, also Filme im Programm?
Viele Filme arbeiten mit den Mitteln des Magischen Realismus, und ein Beispiel ist PERFUMED WITH MINT, ein ägyptischer Film. Der Film zeigt eine surreale Welt, von der wir nicht begreifen, ob das noch die Welt der Lebenden oder schon die der Toten ist. Vielleicht sogar das Ende der Welt. In diesem Film leben Menschen weiter als Minzepflanzen. Diese Verbindung zwischen Mensch und Natur gibt es in einigen Beiträgen. Oder auch das Thema der Rache der Natur durch ökologische Katastrophen wie in dem Film SILENT STORMS, der auch die Spotlights-Reihe eröffnet. Hier kommen die Toten aus dem algerischen Bürgerkrieg zurück, genau in dem Moment, als sich ein unerklärlicher gelber Staub ausbereitet.
Wie es ist mit der Gesamtauswahl, der Selection, gibt es da starke Themen in diesem Jahr? Einen roten Faden?
Wir zeigen in der Hauptauswahl Filme, die in denen letzten drei Jahren entstanden sind. Und ja, es gibt immer gesellschaftliche, politische Themen, die relevant sind für die Region. Das sind dieses Jahr leider auch wieder vor allem Kriege. Beispielsweise im Sudan, der medial gar nicht oft vorkommt, dabei sind 10 Millionen Menschen auf der Flucht. Dazu haben wir SUDAN REMEMBER US programmiert. Wir haben auch wieder einen Fokus auf palästinensische Filme, darunter ein sehr schöner und stiller Film, GAZAN TALES. Ein Film über das alltägliche Leben in Gaza, der vor dem 7. Oktober entstanden ist – eine Stadt, die es so nicht mehr gibt, in der 97% zerstört wurden. Auch Ägypten und Tunesien haben einen Platz im Programm mit Filmen wie PERFUMED WITH MINT, SEEKING HAVEN FOR MR. RAMBO, RED PATH und AGORA über die Folgen der postrevolutionären Zustände, über Menschen, die hadern mit den Folgen der Konflikte und unaufgearbeiteten Themen. Wir schauen aber auch nach Syrien, wo es ja gerade einen Hoffnungsschimmer nach Assad zu geben scheint, zum Beispiel mit dem Film MY MEMORY IS FULL OF GHOSTS, der sich nicht nur mit den Zerstörungen in Homs beschäftigt, sondern auch mit seelischer Zerstörung. Die Verluste von Menschenleben, die sich nicht wieder gut machen lassen, die transgenerationell wirken. Zu Syrien veranstalten wir auch das Panel „Jailbird On Prison, Persecution and Poetry,“ das sich mit Gewalt beziehungsweise gewalttätigen Bildern beschäftigt. Das Panel fragt: Wie lässt sich Gewalt überhaupt künstlerisch verarbeiten? Ist das jetzt schon das richtige Moment oder sollten wir mit der Kunst noch warten? Da geht es nicht nur um Film, sondern auch um Literatur, vor allem das arabische Genre der Gefängnisliteratur
Weil du gerade vom Rahmenprogramm sprichst, was gibt es da an Highlights?
Neben der schon genannten Gesprächsrunde gibt es auch das Panel „On Mothers und Fathers“ mit den Filmemacherinnen Leila Albayaty aus dem Irak, Samira El Mouzghibati aus Belgien und Farah Kassem aus dem Libanon, deren erste Dokumentarfilme alle von ihrer eigenen Familie erzählen. Welche Möglichkeiten und Schwierigkeiten haben Filmemacher*innen, wenn sie ihre Familienarchive aufarbeiten und dabei auch die eigene Identität entdecken? Außerdem gibt es eine Masterclass mit dem palästinensischen Filmemacher Kamal Aljafari, weil er sich so stark mit Fragen der Form beschäftigt, Formkritik übt. Diese Kritik der Form sehen wir auch als Teil dekolonialer Praxis, mit der man Grenzen von Erzählungen auslotet und beispielsweise nicht einfach das reproduziert, was in den Archiven lagert. Frei nach dem Motto „Get in trouble with archives.“

Apropos trouble with archives: Ihr habt ja auch einen Film im Programm, der mit einem deutschen Kultregisseur etwas aufräumt. Konkret mit Fassbinder und seinem Kultklassiker ANGST ESSEN SEELE AUF.
Ja, es war mir sehr wichtig, dass wir Viola Shafiks Film MY NAME IS NOT ALI mit ins Spotlight-Programm nehmen, ein Film, der gelernte Narrative hinterfragt. Denn Shafik stellt gar nicht in Frage, dass Rainer Werner Fassbinders ANGST ESSEN SEELE AUF ein großartiger Film ist, der erste Film, der sich mit Migration und Rassismus auseinandersetzt. Sie zeigt aber auch die Kehrseite, in dem sie die Geschichte von El Hedi Ben Salem M’barek Mohammed Mustafa, der im Film den arabischen Gastarbeiter spielt, erzählt. Seine zum Teil schrecklichen Lebensrealität in Deutschland und Marokko, die er mit anderen Migranten teilte. Da geht es durchaus auch um die damalige Filmszene, die sich als links verstanden hat und es ja auch war, aber sich trotzdem rassistisch verhalten hat beziehungsweise Stereotype reproduziert hat. Und diese Art von investigativem Film ist für mich auch dekoloniale Praxis: Man nimmt einen Charakter, der eigentlich ein Nebendarsteller ist, und zentriert dann die Geschichte neu, um ihn herum. Der Film ist auch interessant, weil er so stark mit dem Hier und Jetzt und der aktuellen Situation in Deutschland korrespondiert.
Mahdi Fleifels TO A LAND UNKNOWN eröffnet das 16. Alfilm. Warum habt ihr euch für diesen Film entschieden?
TO A LAND UNKNOWN ist schon filmästhetisch betrachtet ein Meisterwerk und toll gespielt. Im Film geht es um das Schicksal zweier palästinensischer Flüchtlinge. Er hat etwas über das Palästinenser-Sein zu sagen, aber vor allem über das Flüchtlingsdasein. Er ist ein universeller Film, der das aussichtslose und grausame Leben seiner Protagonisten genau zeigt. Der es unmöglich macht, sie für Diebstahl oder andere vielleicht unmoralische Handlungen zu verurteilen. Vielleicht verurteilen wir sie sogar, denken aber dabei: Gerecht ist das Ganze nicht. TO A LAND UNKNOWN bringt uns also dazu, über Empathie noch einmal ganz neu nachzudenken.
Vielleicht zum Abschluss noch eine Frage zur Festivalorganisation: Wie organisiert ihr das Alfilm-Festival in einer Zeit politisch scharf geführter Diskurse und angesichts der Einsparungen im Kulturbereich?
Wir begreifen Filmfestivals und Filme nicht nur als Programm zur Unterhaltung, das sich an Cineasten richtet – wir haben eine Verantwortung für unsere Communities. Mit Alfilm wollen wir diese Communities erreichen und auch neue Communities bilden; Filme sind für uns ein Tool der Selbstermächtigung. Und auch wenn es schwierig ist mit den Einsparungen und anderen Ängsten: Wir werden von unseren Communities gestärkt, durch Solidarität und Liebe. Und das macht uns stark, deswegen machen wir weiter.
Die Fragen stellte Marie Ketzscher.
Das 16. Alfilm findet vom 23. bis 30. April in Berlin statt.