„Reise nach Jerusalem“ von Lucia Chiarla


Abräumer beim 14. achtung berlin: Lucia Chiarlas "Reise nach Jerusalem" sicherte sich den Preis als Bester Spielfilm, Hauptdarstellerin Eva Löbau den für die beste Hauptdarstellerin. (c) KESS Film

Abräumer beim 14. achtung berlin: Lucia Chiarlas „Reise nach Jerusalem“ sicherte sich den Preis als Bester Spielfilm, Hauptdarstellerin Eva Löbau den für die beste Hauptdarstellerin. (c) KESS Film

„Alles ist gut“

Die österreichische Schauspielerin Eva Löbau übernimmt die Hauptrolle in „Reise nach Jerusalem“ und fügt ihrem Rollenrepertoire der leicht gehemmten, übersensiblen und intellektuellen Frau Ende Dreißig eine weitere Figur hinzu. Im Film von Lucia Chiarla stellt sie sich gleich zu Beginn als Alice, 39, Freitexterin und Redakteurin aus Berlin vor. Sie ist Single, schickt aber gleich hinterher, dass dies aber nichts zur Sache tue. Und schon entsteht der erste peinliche – oder zumindest ungeschickte – Moment, noch bevor der Vorspann des Films ganz abgeschlossen ist und der Zuschauer einen ersten Blick auf das Gesicht der Protagonistin werfen konnte. Um einer Freundin auszuhelfen, lässt sie sich regelmäßig für Marktforschungsprojekte einteilen, bei denen sie über die Vorzüge von Haushaltspapier, Rotwein oder einer trendigen Limonade schwärmen und damit die weiteren Teilnehmenden in Stimmung und Kauflaune bringen soll. Als Honorar bekommt sie Tankgutscheine, nur blöd, dass sie selbst kein Auto hat.

Als Journalistin oder Autorin findet Alice keine Stelle, das Arbeitsamt steckt sie in eine Maßnahme, die siezur Online-Redakteurin umschulen soll und in ein Bewerbungstraining. Man legt ihr nahe, sich einen ganz anderen Beruf zu suchen. Ihren ehemaligen Arbeitskollegen einer offenbar mittlerweile gutgehenden Agentur schwärmt sie allerdings von den Freiheiten und Möglichkeiten ihrer Selbstständigkeit vor. Sie ist zu stolz, um sich Geld von ihren Eltern zu borgen, die das Erbe der Großmutter, das diese für die Hochzeit von Alice vorgesehen hatte, in einen Wohnwagen investieren, da sie sehen, dass in absehbarer Zeit keine solche Gelegenheit zu erwarten ist. Alice steht für eine Vielzahl von, meist weiblichen, Absolventen eines Studiums der Geisteswissenschaften, die nicht nur in Berlin, aber besonders in Berlin leben oder mit großen Träumen hierher gezogen sind, doch an der enormen Konkurrenz scheitern. Sie angeln sich von einem schlecht bezahlten Job zum anderen oder landen in einer Tätigkeit, in der sie einfachere und allgemeinere Büroaktivitäten übernehmen oder zuarbeiten, wofür sie in der Regel überqualifiziert sind.

Die Vorstellungsgespräche, die Alice durchläuft, glaubt man, selbst zur Genüge erlebt zu haben. Punkten kann man mit exotischen Positionen, am besten mit einer langjährigen Auslandserfahrung, und auch für die obligaten Fragen wie „wie sehen Sie sich in fünf Jahren?“, „sind Sie für die Stelle nicht überqualifiziert?“ oder „wieso glauben Sie, dass Sie der beste Kandidat für die Stelle sind?“ hat man ein müdes Lächeln übrig. Auch die Diskussionen mit den Freunden und Eltern sowie die Erklärungsversuche beim Arbeitsamt werden dem einen oder anderen Dreißigjährigen in der Hauptstadt bekannt vorkommen.
Das ermöglicht der Figur Alice genügend Identifikationspotenzial. Die Metapher des Spiels „Reise nach Jerusalem„, das dem Film seinen Titel gibt, konnte nicht besser gewählt sein. Die Stühle werden im Laufe des Spiels immer weniger, „setzen“ können sich nur noch die, die schnell und offensiv-rücksichtslos agieren. Genau diese Nähe zur Realität einer spezifischen Gruppe in Berlin Lebender macht die Stärke des Filmes aus. Die genaue Beobachtung von Alltagssituationen und die Authentizität der Dialoge, die durch ihre Reduktion eine stets mitschwingende Ironie aufrechterhalten, lösen beim empfänglichen Zuschauer eindeutig eine Beklemmung aus. Auf diese Weise schwankt der Film zwischen schwarzer Komödie und Drama hin und her, unterhält und verstört zugleich.

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