„Seefeuer“ (Ot: „Fuocoammare“) von Gianfranco Rosi – Goldener Bär


Das Nebeneinander dieser zwei Welten ist es, das Gianfranco Rosi in seinem aktuellen Film „Fuocoammare“ interessiert und zum Sinnbild des weltweiten Umgangs mit der menschlichen Tragödie macht. Erst im Schnitt werden die Paralleluniversen deutlich, wenn Tante Maria die Laken im Schlafzimmer straff zieht und die Kissen aufschlägt, während nur einige Augenblicke zuvor der Zuschauer in das Grauen unter Deck blickt und die chaotisch durcheinander liegenden Leichen der Männer und Frauen zu sehen bekommt, die das Festland nicht lebend erreichten. Rosi reduziert den Einblick auf genau zwei Bilder. Sie reichen, um sich die dramatischen Szenen der Überfahrt vorstellen zu können. Der Kontrast könnte nicht stärker sein. Jede Welt dreht sich um sich selbst. Und trotzdem verurteilt Rosis Blick diese blinden Flecken nicht. Er fängt die Paralleluniversen nur ein und lässt sie unkommentiert in teils sakralen Bildern, die von einer übersinnlichen Ohnmacht erzählen, für sich stehen.

Und dann gibt es da noch Dr. Pietro Bartolo, den einzigen Arzt auf der Insel. Ein fast schon heiliger Mann von unfassbar menschlicher Größe, unglaublicher Tapferkeit und maßloser Aufopferung, die all diejenigen beschämt, die immer nur Worte und niemals Taten für das Unglück im Mittelmeer übrig haben. Er ist das Bindeglied zwischen der einen und der anderen Welt im Film und auf der Insel, und zugleich Zeuge der ersten Stunde. Seit 1991 das erste nordafrikanische Flüchtlingsboot auf Lampedusa landete, kümmerte er sich um jedes Boot, das die Insel seither erreichte. Unvorstellbares hat er in den 25 Jahren gesehen und berichtete etlichen internationalen TV-Stationen von den Katastrophen, die sich an Bord in den sechs Stunden Überfahrt ereignen. Die Bilder hinterließen bei ihm ein dauerhaft flaues Gefühl im Magen und verfolgen ihn bis in den Schlaf. Die Hoffnung, mit seinen Interviews – die jedes Mal all die unterträglichen Bilder immer wieder heraufbeschwören – Menschen zu erreichen und sie für die humanitäre Katastrophe zu sensibilisieren, ist der einzige Grund, warum er überhaupt noch auf Fragen von Journalisten antwortet.

„Fuocoammare“ ist reich und komplex an Einblicken in die Gegenwart. Mit seinem feinen Gespür für Menschen und ihre persönlichen Universen, findet Dokumentarfilmer Rosi auch auf Lampedusa die Protagonisten dieser kleinen Welt und erzählt ihre Geschichte. Männer aus Nigeria singen von ihrer Leidensodyssee in der Heimat, der Sahara, den Gefängnissen Libyens und dem Meer. Lampedusas Fischer berichten ihren Söhnen von den schweren, vergangen Zeiten, Tante Maria erzählt vom Feuer auf dem Meer und Samuele beschreibt seine Leidenschaft für Steinschleudern. Am Ende ist es Samueles Augenkrankheit, sein „faules Auge“, wie es Dr. Bartolo nennt, das sich nicht nur als Metapher für den Film, sondern auch für das Nebeneinander beider Welten entpuppt. Diesen blinden Fleck zu heilen und den Blick zu schärfen hat sich Gianfranco Rosi mit „Fuocoammare“ zur Aufgabe gemacht.

SuT

„Fuocoammare“, Regie und Kamera: Gianfranco Rosi, Editor: Jacopo Quadri, Sound Design: Stefano Grosso; Kinostart: 28. Juli 2016

Bei der 66. Berlinale gewann die Doku den Goldenen Bären als Bester Film!
Die große Meryl Streep zum Wert der Werks:
„Er erinnert uns daran, dass wir handeln müssen!“

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