RIMINI von Ulrich Seidl


RIMINI ©Ulrich Seidl Filmproduktion
RIMINI © Ulrich Seidl Filmproduktion

„Keine Lire und keine Papiere“

Mit der ersten Einstellung von RIMINI wird klar, dass wir es mit einem Film von Ulrich Seidl zu tun haben: eine tableauxartig eingerichtete Totale etabliert einen Ort, dessen Traurigkeit und Absurdität der Regisseur in wenigen Momenten herauszustellen weiß. Diese erste Einstellung zeigt eine Reihe deutlich älterer Personen mit Rollatoren vor einer Fensterreihe eines Pflegeheims, danach sehen wir bunt tapezierte Gänge, denen ein Bewohner vergeblich zu entkommen sucht: es ist Hans-Michael Rehberg, der als an Demenz erkrankter Vater zweier Söhne (Georg Friedrich tritt nur kurz auf) in seiner letzten Performance zu sehen ist. Im wahrsten Sinne des Wortes im Zentrum der Aufmerksamkeit steht jedoch sein Schlagersänger-Sohn Richie Bravo (Michael Thomas), der seine glanzvollen Jahre nicht hinter sich hat, sondern sie auch niemals wirklich vor sich hatte. Den Winter verbringt Richie an der Adria in der nahe an den Verfall rückenden Villa in Rimini, wo er seine Abend mit Auftritten in halbleeren Hotelhallen und mit gelegentlicher Sexarbeit verbringt – beides gleich schlecht bezahlt, aber ein paar Runden Grappa gehen sich damit sicher aus.

Ulrich Seidl hat für seinen Protagonisten nicht umsonst eine Stadt herausgesucht, deren beste Jahre in der Vergangenheit liegen und der besonders im Winter eine ganz eigene Atmosphäre beikommt. Die verlassenen, von Nebel durchzogenen Küstenstreifen, Spielhallen und Restauranthallen sind für große Tourist*innenanstürme angelegt und erblassen als Geisterstadt, zumal während wahrscheinlich eines Covid-Winters gedreht wurde. 1963 erstrahlte Rimini, die Geburtsstadt des Regisseurs Federico Fellini, noch als capitale europea del turismo, bis sich diese Hochphase bereits in den 1980ern legte. Richie Bravo wirkt wie der Adria-Streifen in Seidls Spielfilm von Nostalgie und Sehnsucht nach alten (Jugend-)Zeiten erfüllt, auch wenn er nach Außen hin stets den gut gelaunten Typen mimt. Besonders wohl fühlt er sich, wenn ihn seine weiblichen Fans umschwärmen, die ihm aus Österreich hinterhergereist sind und jede seiner Textzeilen auswendig kennen.

Während Seidls letzte Filme SAFARI (hier unsere Kritik „Wild“), IM KELLER (hier unsere Kritik „Es lauert im Keller“) und der PARADIES-Reihe die Grenzen zwischen Dokument und Fiktion v.a. durch seine Inszenierung von Laiendarstellerinnen verschwimmen ließen, konzentriert er sich in RIMINI wieder verstärkt auf die fiktionale Handlung, deren Authentizität sich in erster Linie über seine Orte erzählt. Michael Thomas überzeugt als verkapptes Sternchen in ständiger Selbstinszenierung und mit aus der Zeit gefallener Charmeur-Manier, doch nach der Hälfte der Handlung kann er als Typus italophiler Künstler den Schauwert nicht mehr halten. Von Schauwert á la Seidl sind durchaus auch die Sexszenen zwischen Richie und den verschiedenen Frauen, die er besucht, indem sie uns in unserer Position als Zuschauerin mit dem eigenen Gefühl des Unwohlseins konfrontieren. Besonders wenn in einer Szene die pflegebedürftige Mutter einer Kundin Richies im Nebenraum liegt. In diesen Momenten zeigt Seidl, was Spielfilme sonst auslassen: Sex zwischen über 50-jährigen, Gleitgel, Dominanzspiele und daneben die Realität pflegebedürftiger Menschen.

Weiterlesen: Unser 2013er-Interview „Es geht immer um Machtverhältnisse“ von Denis Demmerle mit Ulrich Seidl…

Einen weiteren Komplex, den Seidl unterkomplex einarbeitet: Migrant*innen. Wiederholt sitzen, stehen oder liegen vier bis fünf Schwarze Männer am Rand des Bildes, das Richie durchschreitet. Einmal hält Richie ein Baby of Color in den Armen und singt ein altes Lied, mit dessen Textzeilen er das N-Wort ausspricht. Damit fügen Seidl und Thomas Richie Bravo, dem ansonsten eh lieben Typ, noch seine alltagsrassistische Seite hinzu. Hierin zeigt sich wieder die durchaus diskutable Haltung des Regisseurs, mit der er Rassisten und Personen mit fragwürdigen Haltungen porträtiert: für den Teil des Publikums, der sich bereits im Vorfeld davon distanziert hat, können solche Szenen einen Schauwert mit Kopfschütteln darstellen, für Personen, die selbst das N-Wort benutzen, ist diese Szene von beiläufigen Charakter. An dieser Stelle fragt sich: Hat sich erstens der angestrebte „Schockeffekt“ durch Seidls bisheriger Filme nicht langsam ausgespielt und muss zweitens dazu das N-Wort wiederholt und nochmal gefestigt werden? Richie repräsentiert eine fiktionale Figur, doch welchen Mehrwert hat die Verwendung des Wortes? Zumal er sich später in der Handlung noch einmal erklärt mit „Ich bin ja kein Rassist, aber…“.

So wie jene Aussagen für sich stehen, stehen auch die Migrant*innen in RIMINI wortlos für sich, betont als Figuren am Rande der Erzählung und der Bilder. Seidl scheint durchaus mit einer Überhöhung dessen zu arbeiten, wenn Tessa (Tessa Göttlicher), Richies Tochter, die nach zwölf Jahren für ihn völlig überraschend auftaucht, ihn wiederholt aufsucht und ihr migrantischer Freund nur wortlos im Hintergrund steht.
Die narrative Wendung, die sich in diesem Zusammenhang mit Richie, Tessa und der Diaspora-Community gegen Ende vollzieht, wirkt etwas gewollt, fast plump und sorgt damit doch für Überraschung. Richie ist halt doch ein Guter, eben „nur“ ein bisschen Alltagsrassist und ansonsten schlägt sein Herz für den Familienfrieden. Vor seiner energischen Tochter kniet der Gewohnheitstrinker mit treuherziger Miene gerne nieder. Der Effekt des erzählerischen Happy Ends liegt in seiner romantischen Überhöhung, während die Romantisierung Italiens in RIMINI wiederum dekonstruiert wird, wie es schon Rainhard Fendrich auf musikalische Art machte. Richie ist durchaus eine interessante Figur, doch viel mehr als alltägliche Abgründe und Sehnsüchte oberflächlich abzubilden gelingt Seidl mit RIMINI letztlich nicht.

Bianca Jasmina Rauch

RIMINI von Ulrich Seidl; Darsteller*innen: Michael Thomas, Hans-Michael Rehberg, Georg Friedrich, Tessa Göttlicher, Inge Maux, Claudia Martini, u.a.