75. Berlinale: HELDIN von Petra Volpe

Arbeitskampf
„Hope there’s someone who’ll take care of me“ singt ANOHNI mit brüchiger Falsett-Stimme aus dem OFF zum Ende des Films. Abgekämpft und erschöpft bleiben die Zuschauer in ihren Kinosesseln nach diesem 92-minütigen Pflegemarathon zurück. Bewegt und vielleicht auch wütend starren sie auf den Abspann. Womöglich auch, um den Lyrics der 2005 veröffentlichten Single im Nachhall des Filmes zuzuhören, die treffender kaum formuliert sein könnten. Einige klatschen Beifall. Erinnerungen an die Pandemie kehren zurück.
„Ich hoffe, es gibt jemanden, der sich um mich kümmern wird“, heißt es im Song. Floria Lind (Leonie Benesch/DAS LEHRERZIMMER) ist so jemand. Die Pflegekraft kümmert sich. Alles, was sie dazu braucht, sind ihre Routinen, ihre Geduld, ihre Freundlichkeit, ihr Mitgefühl und nicht zuletzt – bequeme Schuhe. Vor Dienstantritt zieht sie in der Umkleide ihre neuen Sneaker aus dem Spint. Im Sale erworben und überlebensnotwendig für den Marathon, der ihr bevorsteht. Noch bevor sie auf ihrer Station, der Chirurgie eines Schweizer Krankenhauses, ankommt, ist das Publikum über die Situation vor Ort informiert. Auf dem Weg hoch in die 3. Etage ruft ihr ein vorbeilaufender Kollege zu, wo gerade helfende Hände gebraucht werden für einen Neuzugang. „Ich bin gleich da“ ruft Floria zurück und wird im Bereitschaftszimmer der Station von einer Kollegin gebrieft. Alles läuft hier en passent, alle sind immer in Bewegung. Im Hintergrund macht die Mittelschicht die Dokumentation und bereitet die Übergabe vor. „Wir sind fast voll“ heißt es da. Alle 25 Betten sind nahezu belegt und eine Kollegin fällt aus. Sie sind heute also wieder nur zu zweit auf Station. Eine Schülerin ist noch mit eingeteilt. Die soll aber eigentlich nur mitlaufen und die Abläufe kennenlernen. Keine Zeit sich zu beklagen. In Windeseile und mit rhythmischer Routine übernehmen die Pflegerinnen und organisieren sich. Die Schülerin soll erst mal das Auffüllen der mobilen Pflegewagen und der Apotheke übernehmen. Floria muss ans Bett.
Es ist dieser Rhythmus, der metronomgleich den Zuschauer in den nächsten anderthalb Stunden begleitet. Jeder Handgriff sitzt, jede Frage wird antizipiert und reagiert wird in der Zeiteinheit eines Wimpernschlages. Floria ist so akkurat wie ein Schweizer Uhrwerk. Sie hat alles im Blick und wirklich alles im Kopf. Egal wer oder was ihre Routinen auf ihrer Runde unterbricht – am Telefon, auf den Fluren oder in den Zimmern – Floria speichert alles ab und setzt es mit auf ihre Liste. Doch sie kommt nicht hinterher. Ein Patient kommt zu spät zur OP und klebt an seinem Telefon. Für die Abläufe vor Ort scheint er blind. Ausbaden muss es die Pflegerin, denn der OP-Plan ist eng getaktet und gerade auch niemand da, der den Patienten in den Operationssaal fahren kann. Floria unterbricht ihre Runde und übernimmt die Aufgabe. Prioritäten müssen gesetzt und alle Abläufe immer wieder an die neuen Bedingungen angepasst werden. Zurück auf Station erinnert eine Patientin an ihr Antibiotikum, auf das sie nun schon eine Weile wartet. Spoiler: Sie wird es erst am Ende der Schicht erhalten, die Station ist eben unterbesetzt. Ein Patient, dessen Tochter bei ihm wacht, benötigt Schmerzmittel und ein Privatpatient – der mit dekadent teurer Stoppuhr die Zeit misst, bis Floria in seinem Zimmer ist – braucht ebenfalls eins und einen Tee, denn der aus der Cafeteria schmeckt ihm nicht. Am Telefon ist die Tochter einer dementen Patientin. Sie will wissen, wie es ihrer Mutter geht. Doch die hat keine Orientierung, ist stark verunsichert und will nach Hause. Eine andere Frau ruft wegen der Brille ihrer Mutter an, die diese im Nachttisch vergessen hat. Sie schildert, wo sie liegt und abgegeben werden kann. Und dann müssen noch die Betten im Aufwachraum frei werden, weshalb endlich jemand kommen soll, die Patienten wieder auf die Station zu bringen. Soweit nur einige der Unterbrechungen auf Florias Runde, die sie in dieser Spätschicht eigentlich zu erledigen hat. Natürlich stellt sich die Frage, wann hier ein Fehler passiert und wie gravierend er sein wird.
Unterlegt wird die Taktung der Spätschicht von Emilie Levienaise-Farrouchs Filmmusik. Ihre Violinen tanzen wie ein Sekundenzeiger, der das Tempo mit voranschreitender Schicht immer unbarmherziger einpeitscht. Leonie Benesch bewegt sich in diesem Setting dazu mit eindrucksvoller Virtuosität und einer immer steifer werdenden, fast mechanischen Körperlichkeit. Florias unbedingtem Willen, allen gerecht zu werden, ihrem beruflichen Ethos und Ansprüchen zu genügen, verleiht die 33-jährige Schauspielerin eine Wahrheit, die den Zuschauer Ehrfurcht lehrt.
Es heißt: eine gute Pflege sieht alles, hört alles und spürt alles. Florias Präzision, Professionalität, Belastbarkeit, Empathie und ihre Hingabe für den Beruf stehen genau dafür. Auf sie kommt es an im Klinikalltag. Die Pflege als wichtigstes Rad im Getriebe. Was also, wenn sie wegbricht?
Regisseurin Petra Volpe trifft mit ihrem Film mitten ins Herz einer weltweiten Gesundheitskrise. Seit Jahrzehnten laufen wir sehenden Auges in sie hinein, seit Jahrzehnten warnen Pflegende vor dem Kollaps. Inzwischen konstatiert die WHO, dass das größte Gesundheitsrisiko von dem Mangel an Pflegekräften ausgeht. Dort heißt es: „Prognosen zufolge werden bis 2030 weltweit etwa 18 Millionen Arbeitskräfte im Gesundheitswesen fehlen, darunter auch Krankenschwestern und -pfleger“ (kann hier nachgelesen werden.)
Das ist in 5 Jahren! Und es ist eine bodenlose Frechheit, wenn sich einige Privilegierte (meist männlich gelesene Personen – wieder so eine Systemkonstante) jetzt hinstellen und ohne Bias-Check behaupten, Grund dafür seien junge Menschen, die keine Lust mehr auf Arbeit, Verantwortung oder Belastung hätten, da sie zu sehr mit ihrer Work-Life-Balance beschäftigt seien. Seit der Pandemie laufen die Pflegenden in Scharen aus dem System, denn außer sinnleerem Beifall gab es keine echten Veränderungen. Und es kann niemand behaupten, es hätte ja keiner gewusst. Seit Jahren nutzen sie die Öffentlichkeit und reden Tacheles in Talk-Shows und den Sozialen Medien. Ein System, das auf Profit ausgelegt ist, ist kaputtgespart. Ein Sinnbild dafür sind auch die im Film gezeigten mobilen Stationswagen. Rückzugsorte für Pflegende werden nämlich inzwischen ebenfalls abgebaut und in neuen Krankenhausbauten auf den Bettenstationen gar nicht mehr mitgeplant, so beschreibt es eine Krankenschwester. Pflegende sollen stets und ständig am Patienten sein, auf den Fluren ihre Dokumentationen machen, ohne Rast und Ruh und auch ohne eigenen Raum für all die Gefühle, die diese Kriegerinnen des Gesundheitswesens täglich auszuhalten haben – in der Begegnung mit Krankheit, Tod, Verzweiflung, Konfrontation und Schmerz.
Regisseurin Petra Volpe beschreibt nur eine Schicht aus dem Arbeitsalltag einer Pflegenden. Und es ist noch nicht einmal eine der „schlimmsten Schichten“, wie viele Pflegekräfte schon über die sozialen Medien und auch in der Pressekonferenz verkünden. Nach Ende des Films wünscht man sich eine Fortsetzung. Eine, die wie eine Handlungsanweisung zeigt, wie es laufen müsste, eine Blaupause, um den resignierten Stimmen da draußen Hoffnung und Auftrieb zu schenken.
„Ich hoffe, es gibt jemanden, der sich um mich kümmern wird.“
Weiterer Termin bei der 75. Berlinale
Sonntag, 23.2., 21:30 Uhr, Colosseum 1