75. Berlinale: PATERNAL LEAVE von Alissa Jung – Gilde Filmpreis in der Sektion Generation 14plus


PATERNAL LEAVE © Match Factory Productions, Wildside
PATERNAL LEAVE © Match Factory Productions, Wildside

Vatertage

Leo (Juli Grabenhenrich) ist 15 Jahre alt und ohne ihren Vater in Deutschland aufgewachsen. Der Wunsch, endlich einen so wichtigen Teil ihrer Identität kennenzulernen, ist groß. Schon als Kind hat Leo ihre Fragen an ihren Vater in einem Heft notiert, ohne je eine Antwort darauf zu bekommen. Als Leo ihren Vater in einem Surfvideo auf YouTube entdeckt, kommt es zum Streit mit ihrer Mutter – und kurzerhand macht sich die Teenagerin heimlich und ohne Fahrkarte auf den Weg in den winterlichen Norden Italiens, ans Meer. In dem zu dieser Jahreszeit verlassenen kleinen Ort Marina Romea trifft Leo in einer Strandbar, die schon bessere Zeiten gesehen hat, auf Paolo (Luca Marinelli, MARTIN EDEN, ACHT BERGE) – und den Mittdreißiger überfordert die Begegnung mit Leo völlig. Im Laufe der nächsten Tage geraten Leo und Paolo, dessen kleine Tochter Emilia gerade bei ihm zu Besuch ist, in einen Gefühlsstrudel aus alten und neuen Verletzungen, Erwartungen und Sehnsüchten.

Alissa Jung, die schon als Kind als Schauspielerin begann und aus TV-Filmen und -Serien wie SOKO sowie aus Kinofilmen wie IHR NAME WAR MARIA (2012) bekannt ist, präsentierte mit PATERNAL LEAVE, dessen Drehbuch sie auch schrieb, ihr Langfilmdebüt als Regisseurin in der Sektion Generation 14plus der 75. Berlinale. In der deutsch-italienischen Koproduktion, in der ihr Mann Luca Marinelli die männliche Hauptrolle übernahm, widmet sich Jung, die auch Kinderärztin ist, auf einfühlsame, aber kitschfreie Art einer gerade erst beginnenden Vater-Tochter-Beziehung.

PATERNAL LEAVE inszeniert Alissa Jung fast als Kammerspiel: Sie konzentriert sich ganz auf Vater und Tochter und kommt mit nur wenigen Figuren aus. Leo und Paolo legt sie als komplexe Charaktere an, die auch Fehler machen dürfen: Auf kurze Momente der Annäherung folgt schnell die nächste Enttäuschung. Für zusätzliche Distanz zwischen den beiden sorgen die unterschiedlichen Muttersprachen – sie können sich nur auf Englisch unterhalten – und die verschiedenen Länder, in denen sie leben. Die wenigen anderen Personen in dem kleinen italienischen Ort dienen vor allem dazu, die Beziehung zwischen Leo und Paolo zu spiegeln: Der homosexuelle Teenager Edo (Arturo Gabbriellini) hat Probleme mit seinem Vater, was ihn zu einem wichtigen Ansprechpartner für Leo macht, und Paolos Verhältnis zu seiner Ex-Partnerin Valeria (Gaia Rinaldi) und der gemeinsamen Tochter Emilia (Joy Falletti Cardillo) führt Leo schmerzlich vor Augen, wie ihr Vater auch mit ihrer Mutter und ihr hätte umgehen können.

Die Protagonistin Leo, großartig gespielt von Juli Grabenhenrich in ihrer ersten Filmrolle, ist ein cooles junges Mädchen, das seinen egozentrischen Vater, ein „Manchild“, selbstbewusst mit seinen Fehlern und Versäumnissen und seiner Verantwortungslosigkeit konfrontiert. Direkt im ersten Gespräch der beiden stellt sie ihm knallharte Interviewfragen, um ihn und seine Motive kennenzulernen. Auf seine lahmen Ausreden hat Leo immer die passende Antwort, kontert mit Leichtigkeit und hält ihm den Spiegel vor. Leo wünscht sich, von ihrem Vater gesehen zu werden, doch der verleugnet sie konsequent vor anderen, stellt sie noch nicht einmal seiner jüngeren Tochter vor – und versucht alles, um zu verhindern, dass die Halbschwestern sich kennenlernen.

Alissa Jung inszeniert ihren Film vor der Kulisse eines im Winter wie verlassenen norditalienischen Küstenortes, in dem Leo und Paolo fast allein sind und auf sich selbst zurückgeworfen werden. Die winterlich-grauen Bilder des im Sommer sehr belebten, fröhlichen Ortes stehen sinnbildlich für die Kindheit, die Leo hätte haben können, wenn Paolo ihr einen Platz in seinem Leben eingeräumt hätte. Einmal kommt Leo an einem düster anmutenden Spielplatz vorbei, dessen eigentlich bunte Farben sich im Nebel nur erahnen lassen. Auch in der Figur der kleinen Emilia, Leos Halbschwester, spiegelt sich alles, was Leo von ihrem Vater nicht bekommen hat: Paolo, der von Emilias Mutter Valeria getrennt lebt, ist für Emilia da, singt Lieder mit ihr und kümmert sich liebevoll um sie.

Als Symbol, das eine Verbindung zwischen Vater und Tochter schaffen könnte, fungieren die Flamingos, die in der Gegend leben und die Geschichte als Hintergrundgeräusch begleiten. Flamingos seien Superväter, die sich gemeinsam mit ihrer Partnerin um den Nachwuchs kümmern, erzählt Leo Paolo mit Blick auf die rosafarbenen Vögel, und fragt ihn, warum er nie den Kontakt zu ihr gesucht hat. Neben einem Plastikflamingo, den ein tragisches Schicksal ereilt, spielt für den Ausgang der Geschichte, der an dieser Stelle nicht verraten werden soll, ein Flamingo noch einmal eine entscheidende Rolle – und spiegelt das Verhältnis zwischen Leo und Paolo wider.

Mit ihrem Spielfilm-Regiedebüt PATERNAL LEAVE ist Alissa Jung ein berührender und klischeefreier Film über eine fragile Vater-Tochter-Beziehung gelungen, die sich innerhalb von drei Tagen entwickelt. Der Coming-of-Age-Film überzeugt mit unkonventionellen, frischen Dialogen, leisem Humor, der passenden und originellen visuellen Gestaltung, dem relevanten Thema abwesender Väter – und vor allem mit seiner richtig coolen jungen Heldin, die sich viel erwachsener und reflektierter verhält als ihr Vater.

Stefanie Borowsky

PATERNAL LEAVE, Regie: Alissa Jung; Darsteller*innen: Juli Grabenhenrich, Luca Marinelli, Arturo Gabbriellini, Joy Falletti Cardillo, Gaia Rinaldi. Kinostart: Herbst 2025.