75. Berlinale: PLAYTIME (OT: HORA DO RECREIO) von Lucia Murat

Schulzeit in Rio
In der brasilianischen Megacity Rio de Janeiro diskutieren Schüler*innen zwischen 14 und 19 Jahren aus vier weiterführenden Schulen in ihren Klassen u. a. über Misogynie und geschlechtsspezifische Gewalt, Rassismus oder Queerfeindlichkeit. Viele der Teenager*innen kommen aus dysfunktionalen Familien und trauen sich, vor der Kamera offen von häuslicher und sexualisierter Gewalt, von Drogensucht, Wohnungslosigkeit oder Polizeigewalt zu berichten, die Familienmitglieder oder sie selbst erlebt haben. An einer der Schulen spielen die Schüler*innen in einem Reenactment Situationen nach, die sie bei gewalttätigen Polizeieinsätzen in ihrem Viertel erlebt haben. Schüler*innen einer weiteren Schule studieren die Kurzgeschichte Clara dos Anjos (1948) von Lima Barreto als Theaterstück über den Missbrauch eines Schwarzen Mädchens aus Rio ein und vergleichen die Handlung mit eigenen Erfahrungen und der heutigen Situation für Frauen im Patriarchat.
Auf einem vom Filmteam begleiteten Schulausflug erfahren die Schüler*innen mehr über die Geschichte Schwarzer Menschen in Brasilien. Die Jugendlichen reflektieren sich selbst und die Gesellschaft, in der sie aufwachsen, auf beindruckende Weise, kritisieren auch die Schule, die doch ein Safe Space sein sollte, und hoffen, sich ein besseres, ein gewaltfreies Leben aufzubauen zu können. Eine Schwarze Lehrerin, die selbst in einer Favela aufgewachsen ist, ihren Bruder durch einen Mord verloren hat und missbraucht wurde, macht ihnen klar, was der einzige Ausweg aus der Gewaltspirale ist: Bildung.
Die brasilianische Filmemacherin Lucia Murat ist nach SWEET POWER (1997, Forum) und ANOTHER LOVE STORY (2008, Panorama) zum dritten Mal mit einem Film zu Gast bei der Berlinale. In den 1960er- und 1970er-Jahren war Murat in Studenten- und Guerillabewegungen gegen die Militärdiktatur in Brasilien aktiv, wurde inhaftiert und gefoltert, was ihre Arbeit stark prägte. PLAYTIME (OT: HORA DO RECREIO, was auf Deutsch „Pause“ bzw. „Schulpause“ bedeutet), entwickelte sie aufgrund einer Umfrage unter Lehrer*innen öffentlicher Schulen und zeichnet darin mithilfe der Kombination von dokumentarischen und fiktionalen Elementen, unterlegt von u. a. Rassismus anprangernden brasilianischen Songs, ein erschütterndes und zugleich hoffnungsvolles Bild der Lebensrealitäten junger Menschen in der brasilianischen Megametropole Rio de Janeiro.
Um eine möglichst diverse Schnittmenge abzubilden, drehte sie an für Rios jeweilige Stadtteile und Communities repräsentativen Schulen – und fängt dort mit Leichtigkeit die jeweilige Stimmung ein. Die Dimensionen der Megacity verdeutlicht Murat, indem sie z. B. Fahrten zwischen den verschiedenen Stationen oder Aufnahmen der Favelas aus der Ferne zeigt. Mit PLAYTIME, den sie in der Sektion Generation 14plus vorstellte und für den sie bei der Verleihung des Gläsernen Bären für den Besten Film eine Lobende Erwähnung erhielt, ist Lucia Murat ein eindrücklicher, relevanter Film gelungen, der den Zuschauer*innen die Augen öffnet – und mit dem sie den Schüler*innen die dringend nötige Stimme gibt.
PLAYTIME (OT: HORA DO RECREIO), Regie: Lucia Murat; Darsteller*innen: Brenda Viveiros, Gustavo Veiga, Renan Dionata, Dandara Mello, Raquel Martins, Aninha Cruz, Maju Ferreira, Lucas Bezerra, Luciana Bezerra, Cauã Antunes, João Pedro Soares, Miguel Leite, Nathalie Xavier, Karen Steffany, Ale de Oliveira, Leandra Miranda u. v. a.
Termine bei der 75. Berlinale:
Samstag, 15.2., 19:15 Uhr, Cubix 6
Sonntag, 16.2., 10:00 Uhr, HKW 1 – Miriam Makeba Auditorium
Montag, 17.2., 16:00 Uhr, Zoo Palast 2
Dienstag, 18.2., 13:00 Uhr, Zoo Palast 2
Mittwoch, 19.2., 09:45 Uhr, Filmtheater am Friedrichshain
Sonntag, 23.2., 19:15 Uhr, Cubix 6