75. Berlinale: SCHWESTERHERZ von Sarah Miro Fischer


SCHWESTERHERZ © Selma von Polheim Gravesen / dffb
SCHWESTERHERZ © Selma von Polheim Gravesen / dffb

Roses Dilemma

Die Geschwister Rose (Marie Bloching) und Sam (Anton Weil) haben ein sehr enges Verhältnis zueinander. Als Roses Beziehung zu ihrer Freundin Jazz endet, ist Sam ihre erste Anlaufstelle und sie zieht kurzerhand in seine Wohnung ein. Eines Nachts hört sie, dass Sam eine Frau mit nach Hause bringt – und dass im Nebenzimmer eine Lampe herunterfällt und zerbricht. Der Wasserhahn in der Küche tropft unaufhörlich, Rose holt sich ein Glas Wasser – und sieht eine junge Frau (Laura Balzer) die Wohnung verlassen, die Rose nur einen Blick zuwirft. Nur wenig später wird Sam der Vergewaltigung beschuldigt – und Rose soll bei der Polizei aussagen, was sie in besagter Nacht mitbekommen hat. Das erschüttert die eigentlich so innige Beziehung der Geschwister von Grund auf – und stürzt Rose in ein moralisches Dilemma.

Was macht es mit einer Schwester, wenn ihr Bruder einer Vergewaltigung beschuldigt wird? Regisseurin Sarah Miro Fischer studierte Film in Kolumbien und an der DFFB und beschäftigt sich in SCHWESTERHERZ, ihrem ersten Langspielfilm, intensiv damit, wie viel eine Geschwisterbeziehung aushalten kann. In der Hauptrolle der Rose ist die u. a. aus der Kult-Serie DIE DISCOUNTER bekannte Marie Bloching zu sehen, die den Film mit ihrer nuancierten Darstellung der komplexen Figur der Rose trägt. Hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu ihrem Bruder und dem Wunsch, ihm glauben zu wollen, und andererseits dem Mitgefühl mit Elisa, der jungen Frau, die Sam wegen Vergewaltigung angezeigt hat, tastet sich Endzwanzigerin Rose Schritt für Schritt auf unbekanntem Terrain vor.

Sarah Miro Fischer bleibt nah bei ihrer Protagonistin, deren Gesicht sie immer wieder in Großaufnahme in den Blick nimmt, erzählt in ruhigem Tempo und nimmt sich Zeit, Roses Dilemma bis ins Detail auszuloten. Dabei spielt auch Roses Körperlichkeit als Frau eine Rolle. Sie sucht Elisa auf, die in einem Waxing-Studio arbeitet, und lässt sich von ihr die Bikinizone enthaaren – fast so, als wolle sie sich selbst bestrafen und sich Elisa ausliefern. In dem Aktzeichenkurs, den sie eigentlich als Zeichenschülerin besucht, erklärt Rose sich bereit, Modell zu sitzen, und erträgt die Blicke der Gruppe kaum. Rose, die als medizinische Fachangestellte in einer gynäkologischen Praxis arbeitet, durchlebt verschiedenste Emotionen und verliert sich selbst immer mehr, bis auch sie sich grenzüberschreitend verhält. Den Halt, den ihr bisher ihr Bruder gegeben hat, muss sie nun in sich selbst finden und ihre Identität neu zusammensetzen – ohne Sam. Dass Rose sich von ihm distanziert, spiegelt sich in der visuellen Gestaltung: Sind sich die beiden zu Beginn körperlich und auch im Bild sehr nah, entsteht im Verlauf der Geschichte immer mehr räumliche Distanz zwischen den beiden. Die Kamera (Selma von Polheim Gravesen) bewegt sich immer weniger – und die anfangs so selbstverständlichen Berührungen der Geschwister finden kaum mehr statt. Um weitermachen und noch in den Spiegel schauen zu können, bleibt Rose, deren Aussage für Elisa essentiell wäre, nichts anderes übrig, als eine schwierige Entscheidung zu treffen.

Mit SCHWESTERHERZ fügt Sarah Miro Fischer, die ausführlich recherchierte und u. a. mit Polizist*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen und einem Freund eines verurteilten Vergewaltigers sprach, dem in der Gesellschaft allgegenwärtigen Thema der sexualisierten Gewalt den Blickwinkel einer Angehörigen des Täters hinzu. Damit trägt sie dem Fakt Rechnung, dass sexualisierte Gewalt in den meisten Fällen von Täter*innen aus dem nahen Umfeld des Opfers ausgeht. Fischer lässt die Zuschauer*innen die Situation von Rose nachfühlen, denn auf der Leinwand zeigt sie die Vergewaltigung nicht – und das Publikum hört und sieht nicht mehr als Rose. Eindrücklich stellt die Regisseurin und Co-Drehbuchautorin (mit Agnes Maagaard) in SCHWESTERHERZ so die Frage nach der Verantwortung jedes und jeder Einzelnen im Kampf gegen sexualisierte Gewalt. Sarah Miro Fischers Debüt – übrigens mit einem größtenteils weiblichen Filmteam realisiert – ist ein aufwühlender, gesellschaftlich relevanter Filmbeitrag – große Empfehlung!

SCHWESTERHERZ, Regie: Sarah Miro Fischer; Darsteller*innen: Marie Bloching, Anton Weil, Proschat Madani, Laura Balzer, Jane Chirwa.

Termine bei der 75. Berlinale:
Freitag, 14.2., 17:30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele
Samstag, 15.2., 10:00 Uhr, Cubix 9
Sonntag, 16.2., 13:15 Uhr, Cubix 7
Dienstag, 18.2., 16:00 Uhr, Zoo Palast 2
Samstag, 22.2., 21:30 Uhr, Zoo Palast 1
Sonntag, 23.2., 10:30 Uhr, Cubix 7