75. Berlinale: UNSERE ZEIT WIRD KOMMEN von Ivette Löcker

Lass uns dran arbeiten
Der gute Migrant, der schlechte Migrant. Mit den AfD-Liebäugeleien eines Merz, den Anschlägen in München und Aschaffenburg und der gerade stattfindenden Monothematisierung der Migration werden diese zwei stereotypen, vereinfachenden Kategorien wieder sehr gern aus den Argumentationsschubladen gezerrt.
In so einem politisch aufgeschaukelten Klima ist es daher erst einmal verführerisch, auch Ivette Löckers im Forum laufenden Dokumentarfilm UNSERE ZEIT WIRD KOMMEN aus einem polemisierenden Blickwinkel zu schauen, da er den Beziehungsalltag der Österreicherin Victoria und Siaka verhandelt, der vor circa 20 Jahren aus Gambia geflüchtet ist. Doch der Film weigert sich, ein einfaches Instrument zu sein. Das spürt man gleich in der ersten Szene. Sie zeigt Siaka vor einer Kneipe, gestikulierend. Hier ist es passiert. Hier wurde er rassistisch angegriffen und verprügelt – und keiner hat eingreifen wollen. Er ist wütend, sein Englisch ist brüchig. Man merkt: Es muss raus, immer wieder, die Verletzung, die Demütigung, die Bestätigung, dass er nicht wirklich dazu gehört. Es ist ein mutiger Opener, weil wir hier gleich einen zutiefst vielschichtigen, verzweifelten Menschen erleben, den wir aber nicht gleich greifen können.
Komplex und vielschichtig, das bleibt auch der Film selbst. Schließlich zeigt er den Alltag der beiden, ungeschönt und doch mit vielen schönen Momenten voller Zuneigung. Sie richten gemeinsam die Wohnung ein, kochen, tanzen, umarmen sich, küssen sich, sind sich sehr nah. Auch jenseits des Paarkonstrukts sind wir nah dran: An Siaka, wie er den Hinterhof einer Nachbarin wieder herrichtet und dabei seine in Gambia notwendigerweise praktisch erlernten Gärtner-Skills zum Einsatz bringt, und an Victoria, wie sie in einem Team-Aushandlungsprozess einen Flyer designt.
Aber wir sehen sie die beiden auch in Konflikten oder Momenten, in denen sie ihre unterschiedlichen Auffassungen miteinander versuchen, in Einklang zu bringen. Da sind auf der einen Seite die systemischen Fallstricke: So erleben wir sie zum Beispiel im Arbeitsamt, wie sie versuchen, herauszufinden, ob Siaka auch ohne irgendeinen relevanten Schulabschluss vom Tellerwäscher zum Koch umsatteln kann (langwierig). Oder im Gespräch über den Rassismus, der Siaka immer wieder widerfährt, von dem sich aber Victoria wünscht, dass er – und damit der negative, problembezogene Fokus – nicht das einzige Thema ihres gemeinsamen Lebens und auch des Films sind/bleiben. Und auf der anderen Seite sind da die weltanschaulichen Fragen: Siaka ist gläubiger Muslim, Victoria Atheistin. In welchem Glauben soll dann das gemeinsame Kind erzogen werden, das sie schließlich erwarten? Löcker zeigt ohne Trara, dass die Meinungen hier weit auseinander gehen. Vielleicht am schönsten, als Siaka bei Victorias Familie ist, und die Schwestern ihn löchern, warum es denn ok sein soll, dass ein Mann mehrere Frauen ehelicht, wenn die Frau nicht die gleichen Rechte hat.
Löcker ist ungemein gut darin, eben nicht nur Gemeinsamkeiten oder Differenzen zu zeigen, sondern vor allem, wie die beiden – wie ja alle Paare – Kompromisse aushandeln, sich annähern. Da wollen zwei, die sich lieben, dass es funktioniert, auch wenn es nicht immer einfach ist. Diese Empathie und genaue Beobachtungsgabe für die Bedürfnisse ihrer Protagonist*innen zeichnet Löcker aus, sie hat schon Vorgängerfilme wie WENN ES BLENDET, ÖFFNE DIE AUGEN so besonders gemacht. Sie lässt die Zuschauer*innen vielleicht mitfühlen, vielleicht mithoffen, und auf jeden Fall anders und differenzierter hinschauen.
Weitere Termine bei der 75. Berlinale
Mittwoch, 19.2., 18:15 Uhr, Kino Betonhalle@Silent Green
Freitag, 21.2., 10:00 Uhr, Cubix 8