Einander festhalten gegen die Resignation: Die Berlinale Shorts bei der 73. Berlinale


BACK von Yazan Rabee © Prospektor

Eindrücke aus dem Berlinale Shorts-Programm

Solène kuschelt sich an ihre Freundin Marie, als gäbe es kein Morgen und kein Draußen. Doch schon eine Kameraeinstellung später ist sie knallhart und in your face präsent, die Realität: Es ist Wahlabend in Frankreich, und in der gemütlichen linken Kneipe fiebern sie alle mit – und werden enttäuscht. Ein Schatten huscht über Solène Gesicht. Sie geht in den Nebenraum, zieht eine Line, irgendwann schläft sie mit einer alten Affäre, obwohl sie doch Marie versprochen hat, dass alles anders wird. Es ist ein trister, hoffnungsloser Blick, den Donatienne Bertherea mit ihrem NUITS BLANCHES auf die Millenials in Frankreich wirft. Politikverdrossen und verzweifelt verdrängt ihre Protagonistin mit den Drogen kurzzeitig die Schwere des Moments – und zerstört gleichzeitig alles, was im Zwischenmenschlichen noch Halt geben könnte. Damit findet sich ihre Solène in guter Gesellschaft: Die diesjährige, unglaublich starke Shorts-Edition der 73. Berlinale ist mit wenigen Ausnahmen – darunter der herrliche HAPPY DOOM von Billy Roisz und der alltagspoetische FROM FISH TO MOON von Kevin Contento – ganz schön düster geraten. Das gilt besonders für die Darstellung jüngerer Protagonist*innen, die sich mit dem Wirrwarr gleichzeitiger Katastrophenmeldungen im besten Falle arrangiert und im schlechtesten Falle deswegen rundum resigniert haben.

Für die Rückschritte im Bereich der Reproduktion und Selbstbestimmung in Brasilien (wo 2020 die Abtreibungsgesetze noch einmal verschärft wurden) steht AS MIÇANGAS von Rafaela Camelo und Emanuel Lavor, in dem zwei Schwestern – die man verwirrenderweise anfangs für Liebhaberinnen hält – einander zärtlich umsorgen, damit eine von ihnen dann schließlich im Arm der anderen eine Abtreibungspille schlucken kann. Die sozialen Kluften werden zum Beispiel in Anaïs-Tohé Commarets 8 verhandelt, wo die Banlieue-Langeweile mit kleineren Alltagstorpedierungen und Motorroller-Fahrten vertrieben wird; Hauptsache, man streamt sich. Verdrängung spielt auch im spanischen LA HERIDA LUMINOSA von Christian Avilés eine Rolle, der reichlich artifiziell und bonbonfarben inszeniert den Insta-TikTok-Trend des Balconing (Jugendliche wollen vom Hotelbalkon aus in den Swimming Pool hüpfen, springen aber in den Tod/verletzen sich schwer) aufgreift. Anders, aber ebenso ausweglos wirkt Michelle und Noel Keserwanys LES CHENILLES, in dem sich zwei Frauen aus dem Levante (vermutlich hier Syrien und Libanon) im französischen Exil als Oberkellnerin und neu Eingelernte kennenlernen, sich aneinander reiben – und dann doch annähern, immer mit der großen kolonialen Last und den Kriegs- und Prekariatstraumata im Nacken. Apropos Krieg – war da was? Der aus Found Footage montierte BACK von Yazan Rabee, der Kriegserinnerungen und Traumsequenzen verwebt, erinnert schmerzlich daran, dass der Krieg in Syrien keine Vergangenheit ist, auch wenn die Bilder aus der Ukraine gerade alles überlagern.

THE WAITING © Volker Schlecht

Die visuell schönste Resignation hat vielleicht der Animationsfilm THE WAITING von Volker Schlecht zu bieten, der vom Aussterben einer Froschart, aber auch vom Artensterben überhaupt erzählt. Er tut das nüchtern und ganz faktenorientiert, indem er den Film durch die enthusiastische Erzählerstimme einer Forscherin tragen lässt, die von ihrem Feldforschung berichtet. In Kombination mit dem grafisch-wissenschaftlichen Animationsstil entsteht so eine schöne Hommage an ein wenig beachtetes Tier, das in diesem konkreten Fall an einem Globalisierungspilz stirbt, welcher die Amphibien qualvoll ersticken lässt. Die Parallelen zwischen Tier und Mensch – in der Produktionszeit brach COVID aus – werden dabei schön subtil angedeutet. Einen Ausweg will und kann THE WAITING nicht benennen: Denn die Menschen verbreiten den Frosch-Pilz ständig beim Umherreisen, ob absichtlich oder nicht. Und ein ewiger Lockdown ist eben weder für Tier noch Mensch denk- oder machbar; die Globalisierung nicht umkehrbar. Es ist eine ungeheure Stärke des Films, dass er trotz dieser Ausweglosigkeit nicht mit den einfachen Formeln zum Handeln aufruft, sondern in dieser Erkenntnis und der sehnenden Ehrfurcht nach einem „Urzustand“ erst einmal sinnend verharrt. 

Auf die Stille und das leise Beobachten konzentriert sich auch der chinesische Beitrag WO DE PENG YOU (ALL TOMORROW’S PARTIES), der sich am letzten Tag der Asienspiele 1990 abspielt. Eine junge Frau hat die Spiele als kleinen Ausbruch aus dem Alltag aufmerksam verfolgt. Sie ist in der großen Fabrik damit beauftragt, als Dankeschön den Arbeiter*innen Tickets für eine kostenlose Filmveranstaltung auszugeben. Dabei begegnet sie flüchtig – denn er fragt nur nach einem Freund – einem jungen Mann, der einen Gedichtband veröffentlicht hat. Was er allerdings seinem Freund fast schon klandestin mitteilt. Zwischen der Ticketverteilerin und dem jungen Dichter entsteht in nur zwei kleinen Begegnungen eine Allianz durch eine gemeinsame Sehnsucht nach Ausbruch aus dem System und Mühlenrad.

Ausgerechnet der kurze Dokfilm OURS, der mit seiner den Male Gaze und #metoo umkreisenden Thematik ebenso düster sein könnte, bewegt am meisten – und stimmt am optimistischsten. Die Filmstudentin Morgane Frund nimmt sich dem Oeuvre eines Autorenfilmers an, um vor allem sein Bärenmaterial in einen Film zu schneiden. Doch dann entdeckt sie plötzlich voyeuristische Aufnahmen von Frauen – und spricht mit ihm darüber. Die Konfrontation mit dem Amateurfilmer und das ehrliche Aufzeigen der Hiflosigkeit, der Verletzung und der gleichzeitigen Dialogbereitschaft machen OURS zu einem optimistischen Beitrag, der Lust und Mut macht für ungemütliche (gesellschaftliche) Aushandlungen, denen wir gern aus dem Weg gehen.