„Our Time“ von Carlos Reygadas



Dies funktioniert vor allem in Momenten der filmischen Immersion, in denen wir ganz unvoreingenommen dem konfliktbehafteten und in wunderschönen Bildern eingefangenen Geschehen auf der Leinwand folgen können. Die emotionale Ambivalenz, welche die Figuren in ihren hitzigen und eiskalten Diskussionen und Streitereien zur Schau stellen, wird von dem Kameramann Diego Garcia („Cemetery of Splendour“) in eine adäquate Bildsprache gefasst. So taucht die Kamera während einer Autofahrt unter die Motorhaube und observiert die mechanischen Vorgänge innerhalb des Kraftfahrzeugs. Oder sie kreist am Fahrwerk eines Flugzeugs befestigt im nächtlichen Landeanflug über der gigantischen Metropole Mexiko-Stadt. Auch wenn die Schönheit der Aufnahmen sehr natürlich anmutet, wird kein Naturalismus angestrebt. Eine alkohol- und drogengeschwängerte Party, auf der ein argwöhnischer Juan kurz vor dem Kollaps steht, mündet im Auftritt eines Teufelsmusikers am Mikrofon.

Das stilistische Kalkül von Reygadas geht jedoch nicht auf, wenn die Inhalte zu konkret thematisiert werden. Sobald die Innenleben der Figuren in Off-Kommentaren geschildert werden oder eine Rekonstruktion des Beziehungsstreits anhand von Email- und Chatverläufen stattfindet, werden wir aus der kunstvoll arrangierten Immersion herausgeholt. Zu viele Sachverhalte werden angesprochen, ohne dass diese hinreichend erörtert werden. Es geht um Liebe, Partnerschaft, Begehren, Eifersucht, Vertrauen und Betrug aus einer sehr maskulinen und dominanten Perspektive. Letztendlich wird der gesamte Ehestreit jedoch lediglich auf die enttäuschte Erwartungshaltung eines gekränkten Egos reduziert. Und genau diesen Umstand scheinen sich sowohl die Figur des Juan, als auch Reygadas als Regisseur und der Film als solches bis zum Schluss nicht eingestehen zu wollen. In Konsequenz erscheint der so ernsthaft und tragisch dargestellte Konflikt des Paares als platt und belanglos.

Was bliebt sind beeindruckende Augenblicke wie die Eröffnungssequenz, in der die Kamera Kindern und Jugendlichen beim Spielen, Schwimmen Streiten, Trinken, Rauchen und Küssen um einen schlammigen See herum folgt. Die scheinbare Symbolik und Bedeutungsschwere dieser Aufnahmen erinnert an Terrence Malick. Und genau wie bei diesem können Reygadas Filme wahre Größe erreichen, wenn sie nicht eindeutig Stellung dazu beziehen, in welchen Kontexten und Diskursen sie gelesen werden sollen. Das hat er mit „Japón“ (2002) und „Post Tenebras Lux“ hervorragend veranschaulicht. „Our Time“ mutet jedoch wie der Versuch einer autobiographischen Aufarbeitung von Reygadas sehr weltlichen Problemen an. Falls er dies so konzipiert hat, begeht er jedoch den Fehler, den Film vor allem für eine Person gedreht zu haben: Für sich selbst.

Henning Koch

„Our Time“ („Nuestro tiempo“), Regie: Carlos Reygadas, Darsteller: Carlos Reygadas, Natalia López, Phil Burgers, Rut Reygadas, Eleazar Reygadas

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