Festivalbericht: 21. Filmfestival Cottbus

Stadt mit Linie


Das Staatstheater in Cottbus, Foto: Filmfestival Cottbus

Das Staatstheater in Cottbus, Foto: Filmfestival Cottbus

Hochgekrempelte Ärmel
Und über allem thront die Frau. Gibt es Figuren, mit denen man sich identifizieren kann, sind es in neun von zehn Fällen sie. Als wahres Oberhaupt der Familie halten sie alles zusammen, gönnen sich nebenbei Affären („Gromozeka„) von denen der etwas schwerfällige Mann schon seit Jahrzehnten keine Ahnung hat, ziehen Kinder allein auf („Ich heiße Ki„, Leszek Dawid, Polen 2011) oder verzichten gleich ganz auf sie. Die Hauptprotagonistin im neorealistischen Film „Salz Weiß“ (Keti Marchavariani, Georgien 2011) ist so ein Beispiel: Tagsüber kellnert sie in einem Restaurant, abends steht sie mit Getränketabletts in einem Nachtclub und schwimmt danach im pechschwarzen Meer. Sie jammert nicht, träumt von einem eigenen Restaurant und kümmert sich gleichzeitig um ein Straßenmädchen, das ihr am Strand begegnet ist. Auch die Mutter (gespielt von Corinna Harfouch) von Simon im Special-Programm „Weimarer Dreieck“ „Auf der Suche“ (Jan Krüger, Deutschland/Frankreich 2011), begibt sich lediglich wegen einer Vorahnung auf den Weg nach Marseilles, um ihren Sohn aufzuspüren. „Auf der Suche“ ist kein überragender Film, zeigt aber eine Frau, die handelt. Und solche Charaktere sind in Cottbus wirklich nötig, verzweifelt man doch über die gelähmten Männerfiguren, die abhauen, trinken, oder sich ähnlich zombiegleich durch ihren Alltag schieben.

Heimatfilm
Besondere Fundgrube aber ist eine Sektion, die mit dem schönen Namen „Retroperspektive: Location Lausitz“ daherkommt. Eröffnet mit „Provinzreich“ (Sieben Kurzfilme, Deutschland 2004-2008) rappt hier MC Dissziplin vor Plattenbauten und beklagt die graue Trostlosigkeit. Viel sagt dann auch der Film „Abhaun!“ (Christoph Wermke, Deutschland 2004), in welchem zwei Jugendliche an der Bushaltestelle sitzen, bevor einer von beiden gleich Abschied nehmen muss – vorher aber noch schnell die Haare kurz geschoren bekommt, im Zimmer der Freundin, zwischen Diddlmäusen und Techno. „Der letzte Sommer“ (Britta von Wolff, Deutschland 2007) begleitet einen Bibliotheksbus einen Sommer durch die Lausitz, begegnet Imbissbudenverkäuferinnen, die im Bann von Afrikaliteratur über ihr eigenes Überleben im Busch philosophieren, trifft Soldaten bei der Bundeswehr, die in ihrer Freizeit sticken (Kreuzstich) und fährt an gelben Rapsfeldern vorbei. Man fühlt sich den Lausitzern schnell verbunden –  nicht, weil alle kluge Sätze sagen, denn das passiert kaum, sondern eher entsteht eine gewisse Sympathie, die an Szenen aus der eigenen Kleinstadt erinnern. Ein Satz bleibt dann aber doch hängen: „Wenn man älter wird, wird die Freude weniger. Das liegt an der Natur, das liegt nicht an mir.

Berührend auch „Abstecher“ (Ulrich Weiß, Deutschland 1992), der Zugreisende auf ihrer Fahrt von Jüterbog nach Berlin befragt. Fragen wie „Geht es Ihnen heute besser?“ oder „Wie haben sie die Zeit nach 1989 erlebt?“ – einfache Fragen, auf welche in den Wagons offen geantwortet wird. Zwischengeschaltet hat Weiß Aufnahmen eines Markttages, irgendwo in der Lausitz, in welcher sich Menschen auf den herabfallenden Käse stürzen wie hungrige Tiere. Ein unangenehmes Bild, im Saal Kopfschütteln und Genuschel, „Armes Deutschland“ hört man da. Oder eine Rede, eine der letzten der DDR, in der Menschen aufgefordert werden, zu sich selbst zu finden. Weiß entschuldigt sich nach der Vorführung dann fast für seinen Film und erklärt den Cottbussern, wie es ist, eine Realzeit von zwei Jahren auf knapp zwei Stunden zu konzentrieren. Plötzlich ist im Gladhouse eine philosophische Stimmung, man fühlt sich fast in einem Uniseminar, Zuschauer sprechen von ihren eigenen Wendeerfahrungen. Ein außerordentlicher Moment, in dem Publikum, Film und Regisseur etwas Neues schaffen, ein Zeitdokument in die Gegenwart hieven.

Nach einer Woche Filmfestival Cottbus fährt man mit einem mittelgroßen Klumpen im Bauch zurück. Ist froh, um das Festival, welches seine Rolle als Zentrum des osteuropäischen Films in Deutschland bravourös erfüllt, fragt sich, welche Filme es wohl in einen deutschen Verleih schaffen könnten, ob es vielversprechende Koproduktionen, basierend auf einem Handschlag in „Connecting Cottbus“, geben wird und was wohl all die Kostyas gerade tun. Heimzukehren nach Berlin ist wohlig und bleiernd zugleich.

Carolin Weidner

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