Wir blicken zurück auf das Jahr 2011
Zweiter Teil: Jahresbilanz 2011
MEHR MUT ZUM FILM von Cosmina M. Grohmann
Am Ende eines Kinojahres ist es unter Filmkritikern und Cineasten beliebt, eine Best-of-Liste zu erstellen. Filmzeitschriften oder Kinosendungen fragen ihre Autoren nach deren Favoriten, Radiomoderatoren und Cineasten verteilen die Plätze ihrer Lieblingsspielfilme des Jahres. Schaut man sich die Auslese diesen Jahres an, fällt eines sofort auf: Egal wohin man schaut, liest, hört – deutschsprachige Filme befinden sich kaum unter den Favoriten. Zwar wird hier und da der erst kürzlich angelaufene Dresen-Film „Halt auf freier Strecke“ (Lars-Olav Beier, Die Zeit) genannt und auch „Schlafkrankheit“ (Patrick Seyboth, Filmportal.de) ist ein Film, der viele Zuschauer und Filmkenner begeistert hat. Doch die Mehrheit entscheidet sich für ausländische Produktionen. Filme, wie „Melancholia“ (Knut Elstermann, Radio Eins vom rbb), „Tree of Life“ (Kai Mihm, epd Film), „Beginners“ (Frank Schnelle, epd Film) oder „Blue Valentine“ (Sabine Horst, Tagesspiegel) gehören für die meisten zu den besten Filmen des Jahres.
Nun scheint es müßig, die apokalyptisch-depressive Endzeitstimmung eines Lars von Trier („Melancholia„) mit der symbolhaften Einzelbildsprache des Werbefilmers Mike Mills („Beginners„) vergleichen zu wollen. Auch der gemeinsame Nenner des schonungslos realistischen Beziehungsdramas „Blue Valentine“ (Derek Cianfrance) und dem bildgewaltigen Familienepos „Tree of Life“ (Terrence Malick) dürfte schwer zu finden sein. Dennoch, eines haben diese so unterschiedlichen Produktionen gemeinsam: Den Mut, einen eigenen Weg in Bildsprache und Erzählform zu gehen. Die Bilder, die etwa die Regisseure Lars von Trier und Terrence Malick kreieren, zeugen von Selbstsicherheit dem eigenen Handwerk gegenüber und einer starken, aber gleichzeitig auch einfachen Geschichte, die sie erzählen wollen. Von Trier, in dem er in seinem Vorspann zu „Melancholia“ eine stilisierte Traumlandschaft entwirft, in der Kirsten Dunst mitsamt ihrem Hochzeitskleid aussieht, wie das Model in einer avantgardistischen Hochglanzfotostrecke und dem drohenden Weltuntergang damit einen ästhetischen Wert gibt. Oder Malick, der seine Protagonisten in überbelichteten Bildern durch amerikanischen Vorgärten streifen lässt, meist nur mit bruchstückhaften Dialogen ausgestattet und ohne stringente Handlungsabläufe der Erinnerung an einen lange Verstorbenen fast physisch spürbar nahe kommt. In „Beginners“ erzählt Sohn Oliver in Retrospektive von seinem homosexuellen Vater – unterbrochen von Bildern von Regenbogen, Präsidenten oder Familienbildern bettet er eine Coming-out-Geschichte auf diese Weise in den größeren Rahmen eines coolen Independent-Films um Liebe und Beziehungen. Und in „Blue Valentine“ nehmen die scheinbar nahtlos ineinander verflochtenen Vor- und Rücksprünge in der erzählten Geschichte von vornhinein die Illusion der romantischen Liebe.
In der Auswahl der beliebtesten Filme vermisst man deutsche Produktionen, die derart virtuos mit der ganzen Bandbreite an erzählerischen Mitteln, die der Film zur Verfügung hat, jonglieren und dabei eine glaubhaft inszenierte Geschichte transportieren. Aber wer weiß, vielleicht stehen ja schon die ersten Kritikerlieblinge des Jahres 2012 in den Startlöchern.