Rückschau auf das Forum der 62. Berlinale

Die Wundertüte der Berlinale


Filmszene: "David Zellners "Kid-Thing"

Filmszene: "David Zellners "Kid-Thing"

Was auf der Verpackung steht, muss noch längst nicht drin sein. Diese Volksweisheit lässt sich sicherlich auf viele Überraschungs- und Enttäuschungsfilme gleichermaßen zurückführen, trifft aber auf das Forum als experimentellste und risikofreudigste Sektion der Berlinale im Besonderen zu. Den Beweis dafür lieferten in diesem Zusammenhang auf der einen Seite Vorstellungen, die unerwartet euphorisch beklatscht wurden und auf der anderen solche, bei denen manche Zuschauer im Schutze der Dunkelheit noch vor Filmende heimlich gen Ausgang geirrt sind. Auch wenn das Programmheft schon vorab von allen Filmen gleichermaßen wohlwollend kündete, die Realität sieht dann doch ein bisschen anders aus.

Zufrieden konnten jene Filmemacher sein, die ihr Werk Themen wie Liebe und Beziehungen widmeten, schließlich geht das alle etwas an und wird genau wie ein Chanel-Kostüm niemals unmodern. Während „Spanien“ von Anja Salomonowitz hier in eher klassischer Spielfilmmanier die Geschichte von Magdalena erzählte, die aus der Unterdrückung von ihrem kontrollsüchtigen Exmann Albert in die Arme des heißblütigen und zugleich überfrommen Rumänen Sava flüchtet, wählten andere Filme lieber eine sachliche Beobachterperspektive. In Calle Overwegs „Beziehungsweisen“ („Negotiating Love„) ist der Zuschauer hautnah bei Therapiesitzungen dabei und erfährt so von den Leiden und Problemen der Paare. Ungewollte Schwangerschaft, nachlassende Gefühle, Betrug, Eifersucht, Desinteresse und dahinschwindende Libido bieten einen derartigen Fundus an Beziehungs-Konfliktstoffen, dass ein jeder sich darin wiederfinden kann, auch wenn die Paare und Geschichten letztlich Overwegs Imagination entspringen. Wer breitet schon freiwillig sein tatsächliches Beziehungsleben auf der Leinwand aus? Die Charaktere in Ruth Maders „What is Love“ machen genau das. Ob nun Singlefrau, Durchschnittsfamilie oder ein strenggläubiger Katholik, alle haben sie gleichermaßen ihr Päckchen zu tragen. Ertragen musste auch die Regisseurin am Abend der Weltpremiere so einiges, als das Publikum sich während des Screenings köstlich amüsierte, dann aber bei der anschließenden Diskussion die Schöpferin etwas überkritisch in die Mangel nahm. Die, die im Dunkeln noch über altbekannte Muster und Fehler lachen konnten, fühlten sich bei Scheinwerferlicht dann wohl doch etwas auf den Schlips getreten.

Wer sich stattdessen in der wohligen Wärme seiner stabilen Familie sonnen konnte, dem wurde allerdings mit Filmen wie „Beyond the Hill“ („Tepenin Ardı„, Emin Alper) und „Everybody in Our Family“ („Toată lumea din familia noastră„, Radu Jude) ein Blick auf das gegenteilige Extrem gewährt. Ersterer macht nämlich deutlich, dass ein Besuch bei Opa in den Bergen ganz schön gefährlich werden kann, vor allem, wenn der seine eigenen Enkel mit Schusswaffen rumhantieren lässt. Gewürzt mit einer ordentlichen Prise Paranoia und Verfolgungswahn ist eine Entartung des ursprünglich harmonisch geplanten Campingurlaubs da praktisch vorprogrammiert. Nicht minder unerfreulich, dafür aber grandios inszeniert, entwickelt sich die Geschichte in „Everybody in Our Family„, als ein geschiedener Ehemann völlig die Kontrolle über sich selbst verliert und in der Wohnung seiner Exfrau ein Geiseldrama in die Weg leitet, nur weil er mit der gemeinsamen Tochter in die Ferien fahren will.

Dass Scheidungen sehr hässlich werden können und meist die Kinder die Leidtragenden sind, davon berichtete auch der amerikanische Independent-Film „For Ellen„: Der Musiker Joby ist gleich zweifach gescheitert, hinsichtlich seiner immer mehr ins Illusorische entrückende Rockstarkarriere und auch bezogen auf seine Vaterrolle für die kleine Ellen. So Yong Kims gefühlvolle Geschichte bezieht sich auf die eigenen Kindheitserinnerungen der Regisseurin und berichtet von elterlichen Fehlern, die anscheinend für lebenslange Narben in der eigenen Biografie sorgen. Immerhin hat Ellen überhaupt noch richtige Eltern, im Gegensatz zu der texanischen Kleinstadt-Göre Annie in David Zellners Film „Kid-Thing„. Ebenfalls ein US-Independent-Beitrag, illustriert „Kid-Thing“ ein kindliches Leben ohne Regeln, ohne Zuwendung und ohne die Kenntnis von Recht und Unrecht. Was ziemlich witzig mit kreativem Vandalismus begann, endete jedoch in der Erkenntnis, dass asoziales Verhalten gar nicht mehr so lustig ist, wenn dabei ein Menschenleben auf dem Spiel steht.

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