Rückschau auf das Forum der 62. Berlinale

Die Wundertüte der Berlinale


Filmszene: Davy Chous "Golden Slumbers"

Filmszene: Davy Chous "Golden Slumbers"

Dass ein Dokumentarfilm aufgrund seiner Umsetzung das Publikum auch für weniger bekannte Themen begeistern kann, bewies Davy Chous „Golden Slumbers“ („Le sommeil d’or„) – zumindest ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Zuschauerschaft sich bisher noch nicht mit der kambodschanischen Filmindustrie beschäftigt hat. „Golden Slumbers“ berichtet vom Niedergang des kambodschanischen Films als Resultat des dort herrschenden Bürgerkriegs Mitte der Siebziger Jahre. Dass infolgedessen kaum noch Filmmaterial vorhanden ist und die damals wichtigen Akteure der Filmlandschaft die Ereignisse nur aus ihrer Erinnerung heraus rekonstruieren konnten, wusste „Golden Slumbers“ allerdings durch die Einspielung geretteter Tonaufnahmen und eine beeindruckende Kameraarbeit zu substituieren. Das erstaunliche Ergebnis war eine sich ausbreitende Retro- und Nostalgie-Atmosphäre, die scheinbar völlig problemlos ohne anschauliche Bildfragmente auskam, inszeniert von einem gerade mal 27-jährigen Regisseur.

Als überraschend herausragend erwies sich der Expanded-Beitrag „All Divided Selves“ von dem ebenfalls recht jungen Luke Fowler. In einem 90-minütigen Mix aus sorgsam aufbereitetem Archivmaterial ging Fowler äußerst weitsichtig und kritisch der menschlichen Psychologie auf den Grund, indem er auf die schier unmögliche Unterscheidbarkeit von mental gesund und krank verwies und schließlich den berühmten Psychiater R.D. Laing zum Kernthema der Experimentaldoku ernannte, der im Laufe der Jahre – man beachte die Ironie – zu einem depressiven Alkoholiker verkam. Wer über Anfang und Ende des Films lieber selbst bestimmen möchte, für den lohnte sich ein Besuch der Expanded-Vorstellung von „whiteonwhite: algorithmicnoir“ (Eve Sussman). An der Tür des Arsenal-Vorführraums war bereits deutlich zu lesen, dass der Zuschauer selbst über Kommen und Gehen entscheidet, da hier die einzelnen Filmszenen von einem Computer algorithmisch in Echtzeit aneinandermontiert wurden. Dass man trotz der zusammenhangslosen Szenen sich mit der Zeit ein Narrativ im Kopf zurechtschustern wollte, beweist mal wieder, wie sehr das menschliche Gehirn Diskontinuität verabscheut.

Der ständige Akt, Filme unbewusst mit Deutungen ideologisch zu überfrachten, kam auch im Anschluss an die Vorführung von „Bestiaire“ zur Sprache, wobei Regisseur Denis Côté die Zuschauer etwas unsanft auf den Teppich zurückholte. Minutenlange Aufnahmen von Tieren, die apathisch in Zookäfigen rumstehen und Bilder von ausrastenden Zebras und Löwen formulierten scheinbar überdeutlich eine Kritik an der Gefangenschaft von Tieren. Ein sich diebisch freuender Côté, der dem Publikum versicherte, er habe keinen kritischen Film machen wollen, stattdessen wären sogar 80 Prozent der Tonspur absoluter Fake und das Kino sei schließlich dazu da, die Zuschauer zu belügen, ließ einen dann doch ziemlich nüchtern ermattet im Sitz zurück.

Absolut ehrlich, aber etwas zu freigiebig mit persönlichen Angelegenheiten funktionierte stattdessen „Keep Me Upright“ („Tiens moi droite„) von Zoé Chantre. Einerseits liebevoll mit den Bleistiftzeichnungen einer ziemlich talentierten Regisseurin animiert, dreht sich der Film andererseits volle 65 Minuten lang um ihre Skoliose-Erkrankung. Ständig über seine Krankheiten zu sprechen, vermag in Seniorenheimen und Krankenhäusern immer eine interessierte Zuhörerschaft zu garantieren, aber das muss deswegen noch längst nicht so beim Berlinale-Forum sein.

Nicht nur interesseschürend, sondern überaus investigativ und mit einer extrem faktischen Präzision ging dafür Philip Scheffner mit seinem Dokumentarfilm „Revision“ vor. Ein dramatisches Ereignis aus dem Jahre 1991 wiederaufrollend, bei welchem zwei Rumänen an der deutsch-polnischen Grenze erschossen wurden, interviewte der Regisseur Opfer, Zeugen und ermittelnde Beamte und rekonstruierte damit eine Geschichte, die so manchen Tatort-Krimi vergleichsweise alt aussehen lässt. Aber das hier ist wirklich passiert und die Methode, mit der Scheffner erst die beteiligten Personen interviewt und dann das soeben das Gesagte noch einmal vor der Kamera absegnen lässt, zeugt von penibler Genauigkeit und stilistischem Ideenreichtum gleichermaßen. Positive Beachtung fand schließlich ebenso Scheffners deutscher Regiekollege Thomas Heise, der mit „Die Lage“ („Condition„) den Papstbesuch in Erfurt im vergangenen Jahr noch einmal Revue passieren ließ. Ein gigantisches Polizeiaufgebot, etliche Journalisten und ein bis auf die Minute getackteter Ablaufplan heißen einen Papst willkommen, der von seinem Hochsitzmobil aus wie eine mechanische Aufziehpuppe den Massen winkt. Doch auch ein erschöpfter Papst, der schließlich hinter Glas auf einem Podest Platz nehmen darf, muss sich nach so einem Trubel ein Nickerchen lieber verkneifen. Nun sieht er aus wie ein Zuschauer des Berlinale-Forums. Der teilt sich nämlich nach 10 Tagen Dauerprogramm sein Schicksal mit all den anderen Festival-Pilgern: Schlafmangel, Rückenschmerzen, die Inhalation diverser Krankheitserreger beim Schlangestehen und die Gewissheit: Anstrengend war’s. Aber schön.

Alina Impe

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