Framing Death – Sylvère Lotringer beim Berlin Documentary Forum 2

Über das Verhältnis von Film und Tod


Nicolas Ray bei den Dreharbeiten zu "Nick´s Film: Lightning Over Water", Foto: Kinowelt

Nicolas Ray bei den Dreharbeiten zu "Nick´s Film: Lightning Over Water", Foto: Kinowelt

Johnny Esposito kategorisiert seine Arbeit als Fakt in Abgrenzung zur Fiktion. Er würde nicht fiktionalisieren, da er nicht „dramatisiere“. Das heißt für ihn vor allem „keine suggestiven Bilder“ zu schießen, in denen die Leiche in eine bedeutsame Relation zur Umgebung gefilmt werde. Das Ideal, den Tod des Anderen, die Leiche am Tatort, filmisch zu dokumentieren, hieße also, alle Relationen außer den „fallrelevanten“ visuell zu kappen. Um diesen Widerspruch zu verdeutlichen, präsentiert Lotringer einen Film einer Über-wachungskamera, die einen Raubmord in einem kleinen Kaufladen aufgezeichnet hat. Lotringer klärt auf: Es war alles nur gespielt. Dann dreht er dieses Spiel noch ein Stück weiter: Nun zeigt er einen Film, wie Esposito das Apartment von Lotringer in den 1980er Jahren wie einen Tatort abfilmt, während Lotringer die Leiche auf dem Bett mimt. Das Evidenzverfahren von Esposito wird in seiner Dramaturgie der Fiktion preisgegeben. Von einer Dokumentation kann also nicht die Rede sein, wenn sich mit der gleichen Technik Ununterscheidbarkeiten generieren lassen. Was also ist das Dokumentarische hier?

Die zweite Session fokussiert nun auf die Wandlung von der Tatortdokumentation zu einer allumfassenden Kontrolle: Die Allpräsenz der Überwachungskameras macht die Arbeit als filmischer Indiziensammler am Tatort obsolet. Es verlagert die Arbeit in die Sichtung. Bis zu 800 Stunden Material für einen Fall. Lotringer beklagt den Selbstverrat von Esposito: Er habe die künstlerische Gestaltung aufgegeben, die Geschworenen durch seine Art der „neutralen“ Dokumentation zu informieren. Esposito verneint: Die Überwachungskameras haben sein Ideal des „neutralen“ Filmens erreicht und damit seine Arbeit auf die Sichtung und die Auswahl der relevanten Sequenzen verschoben. Die Kamera dokumentieren „crime scenes“. Die Welt als Schauplatz des Ergebnisses von Kontrolle – die Welt des Dokumentarischen ist hier entweder ein riesiger Verdacht auf Grenzüberschreitungen oder ein Abstecken von Eigentum, wie in einer sehr schönen Sequenz im Polizeiquartier deutlich wird, als ein Beamter auf einer Karte die von Firmen angebrachten Kameras in Manhatten zeigt. Jede rote Pinnadel eine Kamera. Es sind hunderte.

Lightning over water„, Nick´s Film oder das ödipale Drama

In der dritten Session gab Lotringer Orientierung in der komplexen Produktionsgeschichte von „Lightning Over Water“ von Wim Wenders. Ist es Wim´s Film oder Nick´s oder gar der von Tim Ray, dem Sohn von Nick? Alles auf Anfang: Nicholas Ray, der Regisseur von „Rebel Without A Cause“ liegt im Sterben und möchte einen letzten Film realisieren. Dem Aufruf des von Alkoholismus, Drogenkonsum und Bankrott gezeichneten Regieidols der Cahier du cinema folgt schließlich Wim Wenders. Geplant ist ein gemeinsamer Film über das Sterben eines an Krebs erkrankten Malers. Doch bald realisieren alle Beteiligten, dass Nick Ray wirklich im Sterben liegt. Nun wird’s kompliziert und man beginnt zu verstehen, weshalb Lotringer Jahre gebraucht hat, um die Produktionsbedingungen zu rekonstruieren und mittlerweile ein so enges Verhältnis zu den Personen hergestellt hat, dass er sie nur noch per Vornamen nennt. Also: Wim, Nick, Tim, Susan.

Wim arbeitete parallel an seinem traumatisierenden Hollywoodfilm „Hammett„, der von Copppola produziert wurde und der ihn zur Hollywoodmaschine degradierte. Wim aber macht den Film mit Nick weiter und sieht den Film nun als Film über den Tod seines Freundes Nick. Gleichzeitig verspricht Nick seinem Sohn Tim, der Kamerassistent von Wim ist, ebenfalls einen Film mit ihm über seinen Tod zu machen. Nick wird seiner Rolle als unaufgeräumtes, aber geniales Ekel gerecht und weiß offensichtlich noch genügend schlaue Dinge zu sagen, als dass die 30 Jahre jüngere Susan an seiner Seite bleibt und ihn pflegt.


Lotringer kehrt nun den ödipalen Aspekt dieses Dramas heraus. Die alles dominierende Vaterfigur Nick wird zur kristallisierenden Projektionsfläche: Wim macht nun einen Film über sein Verhältnis zum Tod. Nick inkorporiert diese Projektion. In einer anderen Szene sieht Lotringer die Wunschprojektion von Tim, der anstelle seines Vaters Wim erwürgen lässt aber gleichzeitig damit auch den unliebsamen Konkurrentenbruder Wim. Nick zündet sich als reichlich Unbeteiligter an seinem eigenen Tod eine Zigarette an. In einer Szene aber passiert etwas ganz unerhörtes: Das Wort des Meisters wird nicht erhört: „Cut, cut, cut, cut.“ Wim lässt die Kamera weiterlaufen – und tötet damit seinen Vater, symbolisch, so Lotringer.

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